Dialoge zwischen dem Großen Ich und dem kleinen ich – Audiolesungen Hörbuch

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Stimme von Giuseppe Tizza. 
Warte… laß mich ein bißchen schauen. Aber reiß dich zusammen! Du wirkst noch immer, als hätte dich die Würde des Dieners eingeschüchtert, der uns im Vorzimmer den Mantel abgenommen hat. Hör mal, wenn du dich hier in dich verkriechen willst, dann machst du’s nur schlimmer!

Dialoge zwischen dem Großen Ich und dem kleinen ich
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Dialoge zwischen dem Großen Ich
und dem kleinen ich

1. Unsere Ehefrau

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(Das Große Ich und das kleine ich kommen von einer Landpartie nach Hause; dabei haben sie den ganzen Tag in der Gesellschaft reizender Mädchen verbracht, in deren Herzen das berauschende Spektakel des Frühlings gewiß, wie aus ihren Augen und dem Lächeln und den Worten nur zu deutlich zu erkennen war, im geheimen süße, ungreifbare Sehnsüchte entzündet hatte. Das Große Ich ist noch ganz gefangen in der Verzückung und in der Vision der Phantasiebilder, die ihm der vage Zauber des wiedergeborenen Frühlings eingepflanzt hatte. Das kleine ich ist dagegen rechtschaffen müde, möchte sich die Hände und das Gesicht waschen und ins Bett gehen. Das Zimmer liegt im Dunklen. Der Stoff der leichten Vorhänge an den Fenstern zeichnet sich im Raum durch den schönen Mondschein deutlich ab. Von unten dringt das unterdrückte Murmeln der Tiberfluten herauf, dann und wann auch das dumpfe Rollen eines Gefährts auf der hölzernen Ripetta-Brücke.)

– Wollen wir Licht machen?

– Nein, warte… warte… verweilen wir noch einen Augenblick so, im Dunklen. Laß mich noch ein bißchen die Sonne des heutigen Tages bei geschlossenen Augen genießen. Der Anblick der vertrauten Gegenstände würde mir diese sanfte Trunkenheit fortreißen, in der ich noch befangen bin. Strecken wir uns doch in diesen Lehnstuhl aus.

– Im Dunklen, mit geschlossenen Augen? Hör mal, da schlafe ich ein! Ich kann ja schon nicht mehr…

– Also, dann zünde meinetwegen das Licht an, aber sei still, nur einen Augenblick still, du Nervensäge! Gähnst du?…

– Ich gähne…

(Das kleine ich zündet das Licht auf dem Tischchen an, sofort entschlüpft ihm ein Ausruf der Überraschung.)

– Oh, sieh doch! Ein Brief… der ist von ihr!

– Gib ihn her. Ich will einstweilen nichts hören!

– Was denn? Ein Brief von ihr…

– Gib ihn her, sag ich dir! Wir werden ihn später lesen. Ich will jetzt nicht gestört werden.

– Ach so? Na, dann darf ich dich darauf hinweisen, daß du heute den ganzen Tag mit diesen Mädchen eine Menge dummes Zeug gesagt und getan hast; vielleicht hast du mich sogar kompromittiert!

– Ich? Spinnst du? Was hab ich denn getan?

– Frage doch die Augen und die Hand. Ich weiß jedenfalls, daß ich mich den ganzen Tag gefühlt habe wie auf glühenden Kohlen; und ich mußte wieder einmal die Erfahrung machen, daß wir beide nicht gleichzeitig froh sein können.

– Und wer ist da dran schuld? Ich vielleicht? Ich dachte doch, ich mache dir eine Freude, als ich gestern abend nachgegeben habe, damit wir die Einladung zu dieser Landpartie annehmen. Hast du dich nicht stets beklagt, ich würde mich nicht um dich kümmern, um deine Gesundheit; ich würde dich andauernd zwingen, dich mit mir im Studierzimmer zwischen den Büchern und Papieren einzuschließen, einsam, ohne Luft und ohne Bewegung? Hast du dich nicht stets beklagt, ich würde sogar noch dein Essen und die wenigen dir gewidmeten Stunden mit meinen Gedanken, meinen Reflexionen und meinem Weltüberdruß verderben? Und jetzt beklagst du stattdessen, daß ich mich einmal einen Tag lang in Gesellschaft reizender Mädchen und in dem Frohsinn der neuen Jahreszeit vergessen habe? Was willst du denn von mir, wenn du ja doch mit nichts zufrieden bist?

– Dreh, dreh, Kreisel, dreh dich… Wenn du mal zu reden anfängst, wer kommt da noch mit? Du kannst einem ein X für ein U vormachen und das Wort im Munde verdrehen. Daß du dich heute den ganzen Tag über vergessen hast, das hätte natürlich für mich gut sein können, hättest du dich nur nicht zu sehr vergessen… zu sehr, verstehst du? Da liegt das Übel, und das kommt von deiner Lebensweise, die du auch mir aufzwingst. Viel zu unfrei ist unsere Jugend, und wenn du dann einmal den Zügel ein bißchen locker läßt, ja, da verlierst du ihn auch schon ganz aus der Hand, und dann, da haben wir’s, dann gibt es entweder Dummheiten oder Verrücktheiten, die uns nicht mehr angemessen sind, denn wir haben ja jetzt eine heiliges Versprechen zu halten. Also gib mir den Brief und spar dir dein Gepruste!

– Du gehst mir vielleicht auf die Nerven, du Jeremias! Du hast dir in den Kopf gesetzt dich zu verheiraten, und seit du mich mit unerträglichen Raunzereien dazu gebracht hast wider meine Überzeugung einzuwilligen bist du zur ärgsten Plage für mich geworden. Wann werden wir sie denn im Hause haben, diese Ehefrau?

– Sie wird dein und mein Glück sein, mein Lieber!

– Was mich anbelangt, ich habe es dir schon oft gesagt und sage es dir noch einmal, daß ich von ihr nichts wissen will. Dein Glück kann sie ja ruhig werden! Da will ich mich nicht einmischen.

– Da tust du sicher gut daran, bis zu einem gewissen Punkt natürlich. Du hast immer noch jeden meiner Pläne durchkreuzt. Vor zwei Jahren war ich so schön verliebt in unser Kusinchen Elisa, erinnerst du dich?… da kam ich zu dir um ein Sonettchen oder ein Madrigal, und du mit deinen Versen, du undankbarer Kerl, du hast sie bloß zum Weinen gebracht! Ich sagte zu dir: Still, laß sie mir in Ruhe! Was soll sie denn schon begreifen von deinen Wahnbildern und deinen verwirrten Gedankenflügen? Wie soll denn ihr Fuß die Schwelle zu deinem Traumland überschreiten? Wie grausam du gewesen bist! Später hast du es ja selbst in einem Gedicht eingestanden: ich habe in deinen Papieren gekramt und dabei ein paar Lob- und Klagegedichte auf die arme Elisa gefunden… Und was willst du jetzt mit dieser anderen anstellen? Antworte!

– Gar nichts. Ich werde nie ein Wort an sie richten; ich werde immer nur dich reden lassen, bist du dann zufrieden? Freilich unter der Bedingung, daß du mir versprichst, daß sie mich nie in meinem Arbeitszimmer stören und mich nie dazu zwingen wird, das zu sagen, was ich denke und fühle. Mit einem Wort, du nimmst dir eine Frau, und nicht ich…

– Was denn! Wenn du meinst, du kannst dir deine Freiheit so ganz und gar bewahren, wie kann ich da je mit ihr im Hause Frieden haben?

– Ich will nur Freiheit für meine geheimsten Gedanken. Du weißt, die Liebe ist für mich nie ein Tyrann gewesen und wird es auch nie sein: ich habe ja tatsächlich immer dir das Praktizieren der Liebe überlassen. Tu also in dieser Hinsicht, was immer dir richtig erscheint. Ich habe andere Dinge zu denken. Du nimm dir ruhig eine Frau, wenn du es denn wirklich für notwendig hältst.

– Jawohl, notwendig, das habe ich dir doch gesagt! Denn wenn ich auch nur kurze Zeit noch in deiner Macht verbleibe, werde ich ganz sicher der unglücklichste Mensch auf der weiten Erde. Ich brauche unbedingt eine liebevolle Gefährtin, eine Frau, die mich das Leben fühlen und unter meinesgleichen dahinschreiten läßt, bald traurig, bald vergnügt, auf den gewöhnlichen Pfaden der Erde. Ach, ich bin es müde, mein Lieber, selbst die Knöpfe an unseren Hemden anzunähen und mich mit der Nadel in den Finger zu stechen, während du im Geiste durch das aufgewühlte Meer deiner Schimären segelst. Bei jedem Knoten im Garn schreist du: Reiß ab!, aber ich Armer versuche geduldig mit den Nägeln, ihn aufzuknüpfen. Jetzt reicht’s! Von uns beiden bin ich der, der bald sterben muß. Dir verschafft ja dein Stolz die schmeichelhafte Aussicht auf Unsterblichkeit: Laß mich also in Frieden die paar Tage genießen, die mir auf Erden beschieden sind! Denk doch: Wir werden ein gemütliches kleines Häuschen haben, und wir werden diese stummen Räume von stillem Leben widerhallen hören, ein Liedchen, das unsere Frau trällert, während sie bei der Näharbeit sitzt, und der Topf wird auf dem Herd dampfen, wenn es Abend wird… Sind das nicht auch gute und schöne Dinge? Du wirst allein für dich sein, in deinem Zimmer, und arbeiten. Niemand wird dich stören. Nur unter der Bedingung, daß du, wenn du aus dem Arbeitszimmer kommst, ein freundliches Gesicht für unsere Gefährtin übrig hast. Siehst du, wir verlangen wirklich nicht zu viel von dir; du mußt nur ein paar Stunden am Tag mit uns Geduld haben, und dann in der Nacht… nicht zu spät zu Bett gehen…

– Und dann?… Karneades, der Philosoph, pflegte zu sagen, wenn er das Zimmer seiner Frau betrat: Gutes Gelingen! Wir wollen Kinder zeugen! Werdet ihr sie zu mir in die Schule schicken?

– Nein, also das nicht, hör einmal! Laß mich die Kinder aufziehen, die da kommen werden: du könntest aus ihnen so unglückliche Menschen machen, wie du selbst einer bist. Aber darüber reden wir zu seiner Zeit. Jetzt hör auf mich: Schlaf! Laß mich den Brief unserer Braut lesen und ihr dann antworten. Mir ist die Müdigkeit ohnedies vergangen.

– Soll ich dir eine Antwort diktieren?

– Nein, danke vielmals! Schlaf nur… ich bin Manns genug. Ich habe gelernt, ich habe ja genug mit dir geübt, ich mache keine Rechtschreibfehler. Und außerdem, was liegt der Liebe schon an der Grammatik! Übrigens wärest du imstande, die Nase zu rümpfen, wenn du entdeckst, daß unsere Braut Schule mit stummem h schreibt.

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2. Die Abmachung

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(Das Große Ich hat sich auf der Chaiselongue ausgestreckt und starrt auf den Baldachin, von dem ein Stofflappen herunterhängt, der sich im Sommer in eine Traube von Fliegen verwandelt. Das kleine ich fühlt sich wie auf eine Folterbank gespannt, von Zeit zu Zeit fuchtelt es wild in der Luft herum oder prustet vor sich hin. Das Arbeitszimmer liegt im Halbdunkel, dank eines Schilfhalmvorhangs vor dem Fenster. Allerdings sind zwei oder drei Schilfhalme gebrochen, und so dringt ein fadendünner Sonnenstrahl gleißend in das Zimmer, und richtet sich auf das Fußende der Chaiselongue, auf den handgeknüpften Teppich, dessen bunten Flaum er an einem Punkt aufglühen läßt. Das Große Ich betrachtet nun aufmerksam das goldene Staubwölkchen, das, sich langsam drehend ohne je stillzuhalten, in diesem Sonnenstrahl schwebt, und von dem sich von Zeit zu Zeit so etwas wie ein Atom Licht löst, das sofort im Schatten erlischt.)

– So geht es jedem meiner Gedanken!

– Na, bravo! Und findest du es nicht dumm, dieses Atom, das sich von dem Strahl ablöst, in dem es so selig zu schweben war, um kopfüber ins Dunkel zu springen und Schiffbruch zu erleiden?

– Nein. Dumm bist nur du. Was soll das Licht für einen Blinden für einen Wert haben?

– Bravo! Aber das würde nur gelten, wenn ich nicht immer wieder die Illusion hätte, daß unsere Augen mir sehr gute Dienste leisten, wie im übrigen auch die anderen Sinne, die mir viel bessere Dienste leisten würden, wenn du mir größere Freiheit in ihrem Gebrauch zugestehen könntest. Bin ich vielleicht schuld, wenn du nichts zu sehen vermagst?

– Und du? Was siehst du?

– Ich sehe, was es da eben zu sehen gibt. Es ist schon wahr, in Zeiten wie den unseren sieht man fast nur Häßliches und Erbärmliches; aber du, der du das Zeug zum Magier hättest und für dich und für mich (wenn schon nicht für die anderen) diese Erbärmlichkeit und Häßlichkeit verzaubern könntest, weshalb, verzeih, setzt du anscheinend alles daran, mir die einen noch trauriger, die anderen noch niedriger erscheinen zu lassen, so daß wir, mehr noch als Überdruß, geradezu Ekel am Leben empfinden müssen?

– Ach, jetzt erzählst du mir von Zauber, du, der du mich ständig auf die gewohnten Verhaltensmuster verpflichten willst, du Sklave der allergewöhnlichsten Bedürfnisse, der du dich treiben läßt vom Strom der alltäglichen Wechselfälle, der du ohne nachzudenken das Leben so akzeptierst, wie es sich dir gerade präsentiert?

– Was denn, was denn? Ich verstehe dich nicht? Was akzeptiere ich denn? Was verweigere ich? Ich lebe ja bloß, oder besser, ich würde gerne leben, so wie du und ich in unseren Umständen das eben können, wenn du dich nicht ständig über Dinge so maßlos ärgern würdest, die im Grunde gar keine Bedeutung haben, zumindest nach meinem Urteil.

– Urteil? Was willst denn du für ein Urteilsvermögen besitzen?

– Na, du bist gut! Immerhin das Urteilsvermögen, daß ich zum Beispiel gerne nachts schlafen würde, wenn du mir nicht den Schlaf in den Augen vertrocknen ließest, indem du mir in der Stille mit deinen Phantastereien den Schrecken des unausweichlichen und beinahe unmittelbar bevorstehenden Todes einflüsterst; das Urteilsvermögen, mir ein wenig Appetit zu verschaffen, mit ein bißchen fröhlichem und gesundem Sport zur rechten Zeit; das Urteilsvermögen, manchmal auch die Vernunft beiseitezulassen; und schließlich jenes zu arbeiten (warum auch nicht?) aber zu unser und anderer Nutzen, in irgendeiner Art und Weise.

– Und weiter?

– Weiter nichts.

– Dann sage ich dir, wie es weiter geht: Du kannst dich damit abfinden, so weiter voranzuschreiten, einen Tag nach dem anderen, bis ins Alter, mich zu entmündigen, in einer verzweifelten, unaufhörlichen Schwebezustand zu halten, indem du mit oberflächlichen Vorwänden meine ständige Bestürzung beiseite schiebst; du darfst dabei nie wagen, auch nur die geringste Handlung, auch nur ein Wort über die Grenzen des Gewohnten hinausdringen zu lassen, denn du mußt fürchten, daß die Dornenhecke, die die Gesetze zur Verteidigung dieser Schwelle aufgerichtet haben,  dir das Kleid ein wenig zerreißt, das so genau nach der Mode geschneidert ist, oder daß du dir deine ehrbaren Hände blutig schindest. So also, so möchtest du mich weiter mit dir blind dahinschleppen, auf den endgültigen Ruin zu, bergab, immer bergab mit den anderen, im Rudel, gestoßen, gejagt von der Zeit, wie eine Schafherde auf der Flucht, die das bißchen Gras, das sie zwischen den fliehenden Beinen, unter dem Stab und den Wurfsteinen des alten Hirten aufblitzen sieht, hastig zu erhaschen sucht. Aber ich gehöre nicht zu der Herde, mein Lieber! Ich sage nicht wie du: Hier bin ich, schert mich nach Belieben; gebt mir jene Form, die euch am besten paßt! Ich will mein eigener Herr sein, und du sollst mein Sklave sein!

– Ich, Sklave? Ja, was denn noch! Hast du mich denn noch nicht genug versklavt? Sag doch gleich, daß du mich noch lieber tot sehen möchtest! Ich armer Kerl, was erlaube ich mir denn schon anderes als dir schüchtern und untertänig zu empfehlen, ein paar Bissen zu essen, wenn ich dich so trübselig dahinsiechen sehe, oder ein bißchen Erholung in einer klitzekleinen Zerstreuung oder einem kleinen Nickerchen zu suchen? Ach, ist das also ein Verbrechen, wenn ich dich vor dem Spiegel darauf hinweise, daß unsere Stirn zum Beispiel beginnt, allzu ausladend zu werden, daß also binnen kurzer Zeit unsere Jugend verblüht sein wird? Und da verlangst du, daß ich mich nicht beklage, zum Donnerwetter, daß ich nicht darüber verzweifle, daß ich sie nicht so sehr nutzen konnte, wie ich es gewollt hätte? Aber ja doch! Leider kommt nichts dabei heraus, wenn der Wille sich nicht mit der Sehnsucht verbindet. Aber für dich hatten ja alle Sehnsüchte stets den Mangel, daß sie zu mir gehörten, während der Wille stets dein sein mußte, und daher für mich nichts Gutes hervorzubringen vermochte. Ach glückliche, glückliche Kindertage! Denn ich will doch hoffen, daß du damals nicht auch schon groß warst, als wir alle beide klein gewesen sind. Übrigens, sag mir doch: wie ist es dir eigentlich in den Sinn gekommen, so groß zu werden? Was für ein Unglück, mein Lieber! Wenn es nicht überhaupt eine Verrücktheit gewesen ist… Schluß damit. Verzeih meine Kleinheit, ich sage: den Sinn, den Zweck des Lebens, wie kannst du den finden, wenn du ihn nicht im Leben selbst suchst?

– Ihn suchen… Na, bravo! Und wie? Neulich am Abend, in der Kutsche, erinnerst du dich? Als wir im Schritt über die steile Straße fuhren, die zu dem Bahnhof führt: Du dachtest an die, die du abholen fuhrst, und die dann nicht gekommen ist; ich sah den Rücken des alten Kutschers an und seine entspannten Schultern, seit so vielen Jahren saß er da auf seinem schaukelnden Kutschbock. „Als Pferd auf die Welt kommen ist scheußlich, auf solchen Straßen…“ „Und ich, wenn ich es führen muß?“, drehte sich der Kutscher zu mir um. „Frohe Ostern, junger Herr! Eine kleine Gabe für eine arme Witwe, die vier Kinder durchfüttern muß…“ „Streichhölzer hab ich in der Tasche“, hast du mir geantwortet, und ich habe der Witwe ihr Geldstück nicht gegeben. Auf dem Gehsteig zur Rechten trottete hustend ein alter, ärmlich gekleideter Mann, einen abgeschabten und verfärbten Zylinderhut auf dem Kopf: „Das letzte Osterfest, Alter! Paß nur auf, wohin du deine Füße setzt, ein Schritt noch, und du stehst am Grabe… hast du’s gefunden, was ich suche?“ „Dort!“, hätte mir der Alte vielleicht geantwortet, hätte er mich verstanden, und dabei auf ein Brautpaar gezeigt, das hinter ihm die Bergstraße hinunterschlenderte. „Dort, aber nur auf kurze Zeit, wie bei so vielen anderen Dingen. Jetzt versuche ich’s in der Kirche, aber ich habe es nicht gefunden. Leinsamen, mein Lieber, wenn du Husten hast; ein ordentliches Leinsamenpflaster auf die Brust, und eine Prise Senfkorn dazu: das zieht die Feuchtigkeit heraus…“

– Danke! Aber der Alte hat gesucht, er hat gelebt. Du hingegen siehst beim Leben nur zu, du lebst nicht. Und so mag ich vielleicht ein Esel sein, aber du wirst nie verstehen, wie die anderen wenigstens relativ den Sinn und das Ziel finden können, heute in der einen Sache, morgen in der anderen, unter den ungeheuer vielen, die eben gerade das Leben ausmachen. So hab doch Mitleid mit mir: Du siehst ja, du machst sogar mich noch zum Philosophen, und das wäre für mich wirklich das größte Unglück. Aber dann, mein Lieber, dann greifen wir doch gleich zum letzten Mittel, werfen wir uns aus dem Fenster oder hängen wir uns an einen Baum, das wäre noch besser. Nein, nein, Schluß damit: Einigen wir uns lieber endlich, da wir nun einmal gezwungen sind, miteinander zu leben. Du kannst mir ruhig glaube, so sehr du Lust hast, mich umzubringen, so groß ist auch mein Wunsch, dich zu töten… Ich hasse dich, ich verabscheue dich, ich würde dich am liebsten jeden Tag durchprügeln, wenn ich nicht dann zusammen mit dir Au schreien müßte. Also: Schließen wir eine klare Vereinbarung und teilen wir uns einfach die Stunden auf.

– Teilen wir sie auf.

– Jeder von uns ist ganz allein Herr über seine Stunden.

– Ganz allein.

– Also fangen wir an: Wie viele Stunden Schlaf stehen mir zu, meinst du? Ich verlange sieben.

– Zu viele!

– Zu viele, meinst du? Aber wenn ich doch immer schläfrig bin, solange ich deine Gegenwart ertragen muß! Du merkst das nicht, aber du bist ganz schön anstrengend, weißt du das, und wenn du mir weniger gibst, werde ich gewiß auf der Stelle einschlafen, sobald du mit deinen Phantastereien anfängst… Gehen wir weiter! Halt… warte einmal! Sieben Stunden Schlaf, meine ich ‑ wirklich Schlaf, verstanden? Ich möchte nicht, daß du, wie du es bisher gehalten hast, kaum daß wir im Bett sind… Gedanken, Phantasien, Spitzfindigkeiten, Obsessionen, Bücher, Geschichten: das bleibt alles im Arbeitszimmer! Um das Einschlafen, auf der Stelle, da kümmere ich mich schon. Und ich will auch nicht mehr erleben, daß du mir die Mahlzeiten mit deinen ewigen Grübeleien verdirbst. Die Stunde der Mahlzeit gehört mir. Abgemacht?

– Wer hat dir die je verweigert?

– Verweigern tust du sie mir nicht, aber du machst sie mir kaputt. Wie oft bist du mit einem aufgeschlagenen Buch zu Tisch gekommen? Ein Bissen für mich, und eine Viertelstunde Lektüre für dich. Und dann wird mein Essen kalt und ich kann nicht ordentlich verdauen.

– Schluß damit, basta! Du ziehst mich ja in einen Sumpf hinein!

– Also gut, Schluß… Kapitel Liebe: Was gedenkst du da zu tun?

– Das überlasse ich dir; aber hör mal, ich will damit nicht zu viel Zeit verlieren, verstanden?

– Ach, du willst im Ernst nicht einmal die Liebe für dich haben? Was bleibt denn dann noch für dich im Leben? Was willst du dann mit deiner Zeit anfangen?

– Das ist meine Sache, und du hast dich da nicht einzumischen.

– Na, ist gut… das heißt, das ist schlecht. Verrate mir doch eines: Du sagst immer, du fühlst die ganze Welt in deinem Hirn. Da muß wohl was dran sein, denn ich habe ständig Kopfschmerzen. Aber wenn die Erde dir in dieser deiner Welt wirklich als etwas so Kleines und Armseliges erscheint, meinst du nicht, daß ich dann mehr Recht habe, dort zu leben als du? Ach, in gewissen Augenblicken, glaub mir, mein Lieber, da erbarmt mich deine Größe geradezu; und in gewissen anderen frage ich mich sogar, ob ich, in meinem kleinen Dasein, nicht am Ende größer bin als du.

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3. Der Vorabend

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(Das kleine ich, das überaus glücklich erscheinen möchte, schleppt das vor Ärger schnaufende Große Ich nach Hause. Jenes war den letzten Monat hindurch damit beschäftigt, das eheliche Heim einzurichten; dieses mußte ihm dabei wie ein geprügelter Hund nachlaufen. Und nicht selten ist es zwischen den beiden zum Streit gekommen, wie jeder sich leicht ausmalen kann, der sich überlegt, wie viele Hindernisse und Vergeßlichkeiten der Widerwille und die Unfähigkeit des einen in dem Streben und den eifrigen Bemühungen des anderen verursacht haben mag. Aber nun ist das neue Heim fertig und ganz in Ordnung gebracht. Das kleine ich wollte, nachdem es die Braut nach dem Durchsprechen aller notwendigen Details für morgen allein gelassen hat, dieses Heim noch einmal inspizieren, und es ist sehr zufrieden damit. Nun stößt das Große Ich, als es zum letzten Mal sein Junggesellenzimmerchen betritt, einen langen Seufzer durch die Nase aus und ruft)

– Endlich!

– O nein, mein Lieber. Noch ein klein wenig Geduld. Nur ein kleines bißchen. Heute ist erst der Vorabend…

– Jaja, reib dir nur schön die Hände, so, bade dich in deiner Zufriedenheit! Ich dagegen… Aber hör mal, darf man  vielleicht erfahren, wann es zu Ende sein wird, dieses „kleine bißchen“, daß du mir seit Monaten herunterleierst?

– Es ist ja schon der Vorabend, das sag ich dir doch. Unser kleines Nestchen, hast du gesehen?, das ist bereit. Morgen dann, die Hochzeit. Morgen, endlich. Ach!… Dann, wie abgemacht, in der Villa, und dann… dann ist’s genug.

– Genug, jawohl: Es sei denn, ich komme noch zu der Ansicht, daß es für mich angemessener wäre zu krepieren anstatt mich bis dahin zu gedulden.

– Aber geh doch, was läßt du dir da für Dinge entschlüpfen… Lach mit mir, komm! Sei glücklich mit mir! Verzeih, willst du mir denn nicht einmal den Monat der sogenannten „Flitterwochenzeit“ gönnen? Jetzt hast du die Krot verschlungen, wie man so schön sagt, und wegen dem letzten Stückchen machst du Theater?

– Ich habe keine Krot verschlungen, ich hab mich zum Esel gemacht mit dir, und das schon drei Monate lang.

– Wenn du einmal nett zu mir bist, dann hältst du dich immer gleich für einen Esel. Das ist ein Zeichen, daß du es bereust, und deshalb brauche ich dir dafür nicht dankbar zu sein.

– Ja, glaubst du vielleicht, ich hätte mich dabei unterhalten, dir drei Monate hindurch beim Turteln die Mauer zu machen, euren verliebten Stumpfsinn anzuhören und bei euren Zärtlichkeiten und eurem Süßholzraspeln nach Art verliebter Affen zuzusehen?

– Als hättest du nicht auch aus dieser Schüssel gegessen! Und als wären die Dummheiten, die einander Verliebte zuflüstern, nicht die achtbarsten Dinge von der Welt! Ach geh doch, geh doch… Willst du mich wirklich ausgerechnet am Vorabend ärgern? Und doch habe ich dich schon einmal sagen hören, wenn ich mich nicht irre, es gebe nichts Befriedigenderes auf der Welt als andere zufrieden zu machen…

– Ja, aber ich habe auch gesagt, wenn ich mich nicht irre, daß uns nichts die anderen liebenswerter erscheinen läßt als wenn sie mit uns zufrieden sind oder sich uns zufrieden zeigen. Und du bist nie zufriedenzustellen.

– Nein, das ist nicht wahr. Vielleicht zeige ich es nicht so, weil du ja keine sonderliche Gegenleistung erwartest. Aber ich sage es dir noch einmal, in diesen drei Monaten, die für mich voll der Freude waren, bin ich mit dir wirklich zufrieden gewesen. Und sie auch, sie auch, hochzufrieden, das wirst du ja gemerkt haben. Mehr noch, weißt du? Die Verwandten, als die dich so gut und vernünftig erlebt haben, da haben sie mir beinahe zu verstehen gegeben, der Leichtsinnige, das müßte ihrer Meinung nach ich sein, denn sie sind der Ansicht, daß ich, wenn ich nur wollte, meinen die… dich leicht überzeugen könnte, ein bißchen mehr an das Praktische im Leben zu denken, jetzt, wo’s ans Heiraten geht, und zum Beispiel, meinen die… zum Beispiel, diese Kunst an den Nagel zu hängen, mit der man doch so wenig verdienen kann… na, die irren sich, ja, freilich, leider irren sie sich, und zwar gewaltig… du weißt das ja; aber ich, damit ich dich nicht in ein schlechtes Licht rücke, ich halte den Mund; ich habe mich nicht verteidigt. Ich habe nur versprochen… hm, daß ich es versuchen würde.

– Du wirst es hoffentlich nicht wagen, mir gegenüber je eine Silbe von diesem Vorhaben zu erwähnen.

– Ich weiß schon! Es wäre ganz sinnlos. Freilich ist es ein Glück, meine ich, daß wir nicht gezwungen sind, unsere Zeit zum Broterwerb zu verwenden.. Obwohl, andererseits, wer weiß, ob wir da nicht weniger unglücklich gewesen wären, hätte das Schicksal dich gezwungen, aus deinem Tisch im Arbeitszimmer statt einer Alchimistenwerkstatt, in der du dich täglich damit abquälst, Tränen aus geheimnisvollen Ängsten herauszudestillieren, einen Backtrog für das tägliche Brot zu machen. Aber lassen wir dieses Thema. Hast du gesehen, was wir – à propos – für einen herrlichen Schreibtisch und für schöne Bücherregale für dich gekauft haben? Sie hatte den zartfühlenden Einfall, dir ein Arbeitszimmer einzurichten, genau wie du es in deinem letzten Roman beschrieben hast. Ich habe getan, als widersetzte ich mich – auch, um mich ein bißchen bei den Verwandten Liebkind zu machen: ein schönes Mobiliar, hab ich zu ihr gesagt, das kann man mit etwas Geschmack, Papier und Tinte problemlos beschreiben; aber wenn man es kaufen will, dann braucht es klingende Münze. Am Schluß freilich habe ich es geschehen lassen, damit stattdessen du sie lieb gewinnst. Und sei mal ehrlich, bist jetzt nicht auch du zufrieden?

– Ja, die Ärmste, sie ist ein guter Mensch, oder wenigstens scheint es einstweilen so. Aber ich denke daran, daß wir beide morgen zu dritt sein werden, oder besser du zu zweit, und sieh mal, da kann ich nicht anders als mich beunruhigen, ich bin schließlich mehr denn je zur Einsamkeit geboren und gemacht. Und auch wenn ich anerkenne, daß ich zum Großteil schuld daran bin, wenn du oft den anderen leichtsinnig erscheinst, bist du doch diesmal drauf und dran, etwas zu tun, was schlimmer ist als jeder Leichtsinn, und ganz für dich allein; und wenn die anderen das ebenso beurteilen wie ich, dann möchte ich, daß du selbst mir Zeuge dafür bist, daß ich mit der Sache nichts zu tun habe. Und deshalb will ich keine Gewissensbisse, weder für dich, der du meiner Meinung nach in Zukunft noch unglücklicher sein wirst als bisher, zerrissen zwischen den unumgänglichen Pflichten, die du mir gegenüber hast, und den neuen, die du morgen gegenüber deiner Gefährtin eingehen wirst; und ich will auch nicht, daß die vielleicht binnen kurzem schon alles andere als glücklich über unsere Begleitung sein wird.

– Ist schon gut, ich habe verstanden. Du willst mir heute nacht um jeden Preis das Herz schwer machen. Besser, wir gehen ins Bett und schlafen.

– Da sind wir wieder bei deiner alten Gewohnheit: nichts liegt dir am Herzen als Essen und Schlafen.

– Immer noch besser als dir zuzuhören, versteht sich.

– Um sich gegen unangenehme und quälende Warnungen zu schützen, mein Lieber, da genügt es nicht, sich die Ohren mit dem Schlaf zu verstopfen; die Stimme kommt nicht von draußen; sie spricht in uns selbst.

– Also, was mich betrifft: Mit Ausnahme der Stimme, die mir von den bevorstehenden Freuden spricht, und der deinigen, die mir diese Vorfreude verderben will, höre ich keine anderen Stimmen.

– Wenn du deinem Gewissen ein bißchen mehr zuhörtest, würdest du eine andere Stimme hören, die zu dir sagt: „Hast du daran gedacht, an welche Kette du deine Nachkommen fesselst?“

– Ach du meine Güte, meine Nachkommen, das jetzt! Laß sie erst mal kommen! Wenn überhaupt welche kommen! Wenn alle vorher so darüber nachgrübelten…

– Und doch ist es leicht zuzugeben, daß du Nachkommen haben mußt.

– Na gut, dann werde ich es genauso machen wie alle anderen.

– Sieh mal zu: Daß du, was dich anbelangt, dir vornimmst, ein ausgezeichneter Familienvater zu werden, da habe ich keinen Zweifel. Aber da sind wir wieder bei unserem alten Thema: Hast du auch an mich gedacht?

– Und was willst du werden?

– Laß mich erklären. Du hast dir ein Leben erträumt und erträumst es noch immer, das aus Liebe, aus heiterem und aufrichtigem Frieden bestehen soll.

– Hoffentlich.

– Liebe, das mag hingehen, solange sie anhält; aber Friede? In deinem Haus muß ja schließlich auch ich wohnen…

– Ja, das weiß ich!

– Ich werde mich ja nicht den ganzen Tag ausschließlich ins Arbeitszimmer verbannen können…

– Ich weiß!

– Ich werde mit dir zu Tisch gehen, ich werde mit dir zu Bett gehen…

– Ich weiß, verdammt, ich weiß das leider! Das ist doch mein Fluch, wie sollte ich das nicht wissen?

– Na gut, ich meine, was ist dann mit dem Frieden?

– Entschuldige, aber könntest du dich nicht dazu herbeilassen, mäuschenstill den Anblick unseres gemeinsamen Glücks zu genießen? Es wird doch mit Sicherheit ein rührendes Schauspiel werden…

– Ich sage nicht nein. Aber wirst du es verhindern können, daß durch meinen natürlichen Hang zur Melancholie ein schwerer Schatten über dein Haus fällt, deine Kinder traurig macht, deine Frau in Bedrängnis bringt, jedes Mal, wenn eine meiner vielen Sorgen mich von den anderen abschneidet, die sie nicht einmal verstehen können?

– Wir verheiraten uns ‑ oder, wenn du das lieber hast, ich verheirate mich ja eben deshalb, meine ich! Das heißt, um ein Heilmittel einzusetzen, ein Heilmittel nach meiner Art, gegen das, was du deine natürliche Melancholie nennst.

– Und du wirst eine große Enttäuschung erleben! Es liegt nicht in deiner Hand, die Sache zu heilen; hättest du stattdessen mehr Achtung und mehr Liebe für mich gehabt, dann hättest du verstanden, daß für uns beide das weniger Schlimme darin bestanden hätte, allein zu bleiben, und daß es deine Pflicht gewesen wäre, dich um nichts anderes zu kümmern, und nicht an andere zu denken als an mich.

– Meine Pflicht wäre also gewesen mich zu opfern?

– Es wäre dir nicht als ein Opfer erschienen, hättest du nur mehr Vertrauen in mich gehabt. Aber ich mache dir keinen Vorwurf daraus, daß es dir daran ermangelt hat; ich fühle mich… ich fühle mich tatsächlich als ein Fremder auf dieser Erde, und so allein, daß ich begreife, wie in dir, mehr noch als die Sehnsucht, das Bedürfnis nach einer liebenden Begleitung entstehen mußte.

– Na Gott sei Dank!

– Du siehst, wenn ich dich nicht entschuldige, so klage ich dich doch auch nicht an…

– Und warum dann das ganze…?

– Ja, ja, du hast ja recht, es ist tatsächlich so: Diese Erde ist wirklich für dich gemacht, für euch andere… Du weißt aus ihr deinen Unterhalt zu ziehen; du baust auf ihr Häuser und findest mit deinem Fleiß dort von Tag zu Tag einen immer sichereren Schutz gegen die Unbill der Natur, eine immer größere Bequemlichkeit. Ich müßte der Sonnenstrahl sein, die erquickende Brise, die durch die Fenster hereindringt und den Duft der Blüten mit sich trägt; aber oft verstehe ich das nicht zu sein, oft habe ich die Grausamkeit eines kleinen Jungen, der mit einem Stein den Eingang des Ameisenhaufens verstopft. Oft besteht meine Größe gerade darin, daß ich mich unendlich klein fühle; aber klein ist für mich auch die Erde, und jenseits der Berge, jenseits der Meere suche ich dann nach etwas, das da unbedingt sein muß, sonst könnte ich mir diese uranfängliche Sehnsucht nicht erklären, die mich gefangen hält, und die mich zu den Sternen seufzen läßt…

Zu meiner eisigen Einsamkeit
zu meiner Beklemmung, zu meinem langsamen Sterben
spricht in den Sternennächten der Himmel
von anderen uranfänglichen Abenteuern, die es zu erleben gilt,
stets inmitten des Mysteriums und dieser Sehnsucht.

   „Und wie lange noch?“ seufzt die Seele.
Unendliche Stille in der Höhe fängt sie auf,
ihre Frage. Und doch sieht sie sie erzittern,
die Sterne am Himmel, als wären’s belebte Blätter
eines Waldes, in dem der Hauch des Uranfangs weht.

– Soll ich sie zu Papier bringen, diese Verse? O Gott, ich werde nicht sagen, daß sie ihr Entstehen dem freudigen Anlaß verdanken… Ach, steig doch herunter vom Himmel, ich bitte dich… Ich stehe hier am Fenster und im Zug. Ich möchte mir ja nicht ausgerechnet an diesem Abend eine Erkältung holen…

– Dann würdest du morgen vielleicht mit einem Niesen antworten anstatt mit dem für das Sakrament vorgeschriebenen Ja.

– Genug mit den Scherzen, genug mit den Scherzen… Hören wir auf mit dieser Debatte. Und wenn es dir recht ist, dann verwenden wir den Rest dieser Nacht, solange das Feuer im Kamin noch anhält, damit, die kompromittierenden Papiere und Erinnerungen aus unserer frühen Jugend zu vernichten, die mit dem heutigen Abend zu Ende geht.

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4. In Gesellschaft

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(Salon im Hause X. „Intellektueller Salon“. Die Marchesa X  ist eine Schriftstellerin, die sich jedoch durch eine Besonderheit auszeichnet: daß sie außerdem eine schöne Frau ist.

Vierzigtausend Lire Apanage im Jahr.

Sie läßt Novellen drucken und „sentimentale Variationen“ ‑ so nennt sie das ‑ in den wichtigsten Zeitschriften. Es ist alles andere als selten, jeden Samstag unter den Tischgästen der Marchesa die Chefredakteure dieser Zeitschriften anzutreffen.

Der Ehemann, der Abgeordnete Marchese X., kahlköpfig, kurzsichtig, bärtig, ist vier Legislaturen alt, sitzt im Parlament auf der Rechten, ist aber ‑ versteht sich ‑ auch liberal und demokratisch gesinnt. Als leidenschaftlicher Sammler nennt er wie Seine Majestät eine wertvolle Medaillensammlung sein eigen, aber er hütet sie nicht eifersüchtig. Der beste Beweis: Er hat mehr als eine schöne Medaille an bekannte Schriftsteller verschenkt, die zu den Bewunderern seiner Frau zählen. Den Salon frequentieren zahlreiche Damen der Aristokratie und die Patronessen der Gesellschaft zur Pflege der Frauenbildung, Senatoren, Abgeordnete, Literaten und ausgewählte Journalisten.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mein kleines ich hat sich nicht im geringsten darum bemüht, in die erlesene Schar dieser Auserwählten aufgenommen zu werden; aber es wäre auch Heuchelei, wollte man leugnen, daß die Einladung ihm eine große Freude und tiefinnere Befriedigung bereitet hat, worüber das Große Ich wiederum sich geärgert hat. Nun nimmt die Marchesa X, blond und wohlgerundet, strahlend und erbebend in ihrem gewagten, wenngleich nicht unschicklichen Décolleté, seinen Arm und führt ihn herum, um ihn den Damen vorzustellen, wobei sie einige flüchtige Hinweise auf das Große Ich fallen läßt, das darüber errötet, während das kleine ich ‑ Lächeln stets bereit, lebhafte Gestik ‑ sich tief verneigt.

Als die Vorstellung zu Ende ist, fragt das Große Ich das kleine ich:)

grosses ich:

Wo wirst du dich jetzt hinsetzen?

kleines ich:

Warte… laß mich ein bißchen schauen. Aber reiß dich zusammen! Du wirkst noch immer, als hätte dich die Würde des Dieners eingeschüchtert, der uns im Vorzimmer den Mantel abgenommen hat. Hör mal, wenn du dich hier in dich verkriechen willst, dann machst du’s nur schlimmer!

grosses ich:

Aber ich ersticke doch mein Lieber, was heißt da verkriechen! Du hast mich auf einem steifen Kragen aufgehängt, über den du kaum drübersiehst, du hast mich herausgeputzt wie eine Schaufensterpuppe…

kleines ich:

Na, na, nicht schlappmachen! Los, gib dir einen Ruck! Zum Teufel, die werden noch alle merken, daß wir nicht gewohnt sind, einen Frack zu tragen…

grosses ich:

Und was soll mir das schon ausmachen? Du hast es doch genau gewußt, du Idiot, daß ich mich hier nicht wohlfühlen würde, unter all diesen Leuten, in dieser lächerlichen Aufmachung. Du bist schuld, wenn ich einen miserablen Eindruck mache!

kleines ich:

Aber wenn ich doch eigens deinetwegen gekommen bin, um dich bekannt zu machen, damit die Leute dich sehen können…

grosses ich:

Wie einen Tanzbären auf dem Jahrmarkt?

kleines ich:

Himmel, du mußt es eben einmal lernen! Hör nur, hör, was die Leute dort reden, in dieser Gruppe von Abgeordneten und Zeitungsleuten. Sie sprechen von der russischen Revolution, sie bedauern Witte [1]. Schade! Ein Mann, der in wenigen Tagen, von seinem Verhandlungstisch aus, so viele glorreiche japanische Siege zunichte gemacht hatte, und nun… „Aber nein, meine Herrschaften!“ ruft der brillante Journalist Kappa. „Ich ersuche Sie, mir zu glauben, daß in Portsmouth nicht Herr Witte gesiegt hat!“ „Oh, oh! Und wer ist es dann gewesen, der gesiegt hat?“ „Nun, sein Frack, meine Herrschaften, sein Frack! Das gelbe Männchen, wenn es einmal in einem Frack steckt wie ein Pinguin, das wissen Sie doch selbst, dann ist es erbärmlich lächerlich…“

grosses ich:

(Kappa hat uns angesehen…)

kleines ich:

(Sei still! Hören wir lieber zu.) ‑ „Meine Herren, die Japaner, verschlagen wie sie nun einmal sind, hätten doch wissen müssen, daß man die gewohnte Kleidung nicht ungestraft ablegen darf…“

grosses ich:

(Hörst du? Hörst du?)

kleines ich:

(Halt den Mund!) ‑ „Nein, die Nationaltracht legt man nicht ungestraft ab, meine Herren, die Kleidung, die den natürlichen Gegebenheiten entspricht, der Hautfarbe und was weiß ich noch allem. Hätten Herr Witte und die anderen Gäste sich einer Auswahl von japanischen Figurinen gegenübergesehen, wie wir sie üblicherweise auf den Fächern, den Vasen und den Paravents abgebildet sehen, und dabei denken müssen, daß von diesen Figurinen da, die wie ein schlechter Scherz wirkten, ein so wilder Sturm ausgegangen war und die heilige Mutter Rußland durchgeschüttelt hatte, dann, das versichere ich Ihnen, wären sie einigermaßen durcheinander gewesen und hätten nicht so leicht gesiegt. Stattdessen sahen sie den Herrn Koruma im Frack vor sich und haben ihn natürlich so ohne jeden Respekt behandelt wie das die Diener eines großen Herrn mit dem Bürgermeister eines kleinen Dorfes tun, der zum Galadiner aufs Schloß gebeten worden ist…“

grosses ich:

Bravo! Ich hoffe, das wird dir eine Lehre sein!

kleines ich:

Aber das sollte doch eher dir eine Lehre sein, meine ich! Schließlich hast du im Frack Triumphe gefeiert! Und glaube mir, heutzutage… Still! Da kommt ein Herr auf uns zu…

grosses ich:

Geh ihm aus dem Weg! Schau woanders hin!

kleines ich:

Halt still! Da ist er schon… Er sagt, er kennt deinen Namen… er hat etwas von dir gelesen. Ach, zu gütig von Ihnen… zu gütig… Laß mich doch zuhören, zum Donnerwetter, was er sagt. Aha, er fragt uns, ob wir schon lange in Rom sind. Was halten wir davon? Na los, gib mir einen schönen Satz über Rom ein…

grosses ich:

Sag ihm, Rom beginnt fast ein bißchen Paris zu ähneln.

kleines ich:

Bravo! Hörst du? Der Herr stimmt zu… Na los, benimm dich! Lächle nicht so komisch… Da haben wir’s: Der Herr fragt uns, weshalb wir lächeln. Er meint, Paris wäre freilich…

grosses ich:

Aber das ist doch klar, zum Teufel! Du kannst ihn trösten: Natürlich ist Paris etwas ganz anderes! Paris ist Paris! Das gibt’s nur einmal ‑ sag’s ihm auf Französisch! Rom dagegen, da halten wir schon beim „dritten Rom“, und ehe das Paris wird…

kleines ich:

Jetzt lächelt der Herr! Du bist schuld, das er weitergegangen ist… Und jetzt hast du einen Feind mehr! Ach! Du bist wirklich unverbesserlich! Was ist das nur für eine Freude daran, alle Leute in die Flucht zu schlagen! Und dann beklagst du dich, daß dich niemand beachtet! Wenn du doch nicht redest, wenn du dich nicht rührst, wenn du doch in keiner Weise die Aufmerksamkeit der Leute auf dich ziehst! Willst du denn wirklich bloß mir allein da drinnen die Seele zum Vertrocknen bringen? Rede doch! Wie willst du denn sonst, daß die Leute dich kennen lernen?

grosses ich:

Willst du wirklich, daß mich die Leute kennen lernen, wenn ich hierher komme, und damit deine Kleider und Dummheit zur Schau stelle?

kleines ich:

Aber mir wäre es lieber, wenn du stattdessen einmal die Leute kennen lerntest, wie sie wirklich sind, nicht wie du sie dir vorstellst. Während ich rede und, um niemanden zu kränken, na meinetwegen, Blödheiten von mir gebe, mach du dir doch die Mühe und beobachte ‑ nur nicht zu insistent ‑ was um dich herum vorgeht, und glaube mir, du wirst hier mehr und nutzbringendere Studien betreiben als in deinen vielen Büchern. Hörst du, wie man plaudert, wie man vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne Pedanterei, ohne Intoleranz? Nein, tiefe Ideen, sind es nicht, und keine Leidenschaft, das ist schon richtig! Aber was für ein lebhafter Geschmack, was für eine angeregte Konversation, welche exquisite Vollendung in Umgangsformen und Sprache… Sieh dir diese jungen Damen an: das sind Intellektuelle, natürlich, da gibt es keine Debatte; aber trotzdem, diese Schultern, diese Brüste! Und dennoch, wie sie da ganz ruhig vor sich hinblicken, als hätten sie nicht den geringsten Verdacht, sie könnten so halbnackt dastehen, wie sie es tun… Und die armen Ehemänner! Wer weiß, wie viele in diesem Augenblick denken: „Käme doch nur wieder die Zeit des Feigenblatts! Denn, was die Nacktheit anbelangt… Heiliger Gott, nachdem wir ein Vermögen ausgegeben haben, um unsere Frauen zu bekleiden, da haben wir sie: jetzt zeigen sie erst recht die nackte Haut…“ Los, los, laß den Blick nicht zu tief dringen! Man muß dieses Leben flüchtig genießen, wie eine Illusion, die vorüberfliegt, wie ein glänzendes Phantasiebild, das sich in Rauch auflöst… Oh! Sieh dich doch einmal in diesen Spiegel da… Du bist ja rot im Gesicht wie Klatschmohn!… Dieser Duft… Du läßt dich zu sehr erregen, was?, du großer Mann… Schluß! Schluß! Ein bißchen Luft schöpfen am Fenster…

grosses ich:

Wäre es nicht besser nach Hause zu gehen?

kleines ich:

Nein, komm her, komm hierher ans Fenster!

grosses ich:

Hier hat man wenigstens frische Luft…

kleines ich:

Das ist ein Unterschied, was? Wie dunkel es ist! Und wie düster da alles wirkt… Schau nur, diese Lampions dort, und diese Bäumchen auf dem Platz… der schwankende Widerschein der Gaslampen auf dem Pflaster… und diese beiden Wagenlaternen, die sich langsam vorwärts bewegen… Was für eine unheimliche Düsterkeit! ‑ He, aufgepaßt! Man ruft uns… komm… Die Marchesa fragt, ob wir uns langweilen…

grosses ich:

Aber ich amüsiere mich doch königlich!

kleines ich:

Hm, aufgepaßt, hier: Jetzt sind wir unter den Damen. Sie sprechen von dem jungen Herzog von Orléans… Sie sagen, er beginnt, den Weg für seine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten, um wieder König zu werden. Er hat eine Reise zum Nordpol gemacht. Sie fragen dich, was du davon hältst…

grosses ich:

Na! Das muß wohl wirklich eine ungeheure Befriedigung sein, wenn man sagen kann: „Hier bin ich: Ich habe den Pol erreicht! Kein Mensch weiß das, aber ich stehe nun mit der Zehenspitze bloß eines Fußes auf nichts geringerem als dem einen Ende der imaginären Rotationsachse der Erde. Hier ist nichts aufgeschrieben; aber hier zu stehen ist nicht dasselbe wie ein paar Schritte weiter drüben zu stehen. Hier ist der richtige Punkt. Ja freilich, Eis ist da wie dort; eine Hundekälte; und keine Menschenseele ist zu sehen. Aber ich stehe hier erhöht, mehr als jeder König auf seinem Thron!“ Vielleicht wird der junge Herzog von Orléans, nachdem er einmal den Pol erreicht hat, sich ja damit zufrieden geben, auf Dauer ein bißchen tiefer zu sitzen, nämlich auf dem französischen Thron. Aber haben uns die Zeitungen nicht erzählt, daß er statt des Pols eine Insel entdeckt hat und sie Terre de France, Eiland Frankreichs genannt hat? Also das verstehe ich nicht! Terre de France, und dann kehrt er zurück… Er hätte sich doch einstweilen… na, um einmal einen Anfang zu machen ‑ zum König dieses kleinen Frankreich ausrufen können…

kleines ich:

Vielleicht war es dort zu kalt. Dafür gibt es einen anderen Kaiser, der kann nicht in seinem Reich bleiben, weil es dort zu heiß ist. Dort das Eis des Polarmeers; hier die Sanddünen der Wüste.

grosses ich:

Aber Lebaudy [2], der hat sich doch wenigstens zum Kaiser ausgerufen…

kleines ich:

Bravo! Siehst du? Jetzt hast du diese schönen Damen zum Lachen gebracht… Ja, wenn du nur wolltest… Still! Was ist los? Die Leute stehen auf…

grosses ich:

Wird getanzt? Wenn getanzt wird, gehen wir sofort nach Hause! Hör mal, da laß ich mit mir nicht reden… Gehen wir nach Hause!

kleines ich:

Es wird ja nicht getanzt, du alter Brummbär! Hörst du nicht? Fräulein B. wird uns etwas vorspielen. Sie läßt sich nur noch ein wenig bitten. Sie hat eiskalte Hände, die Arme, sie kann nicht! Sieh nur, sieh: Ein junger Mann macht sich erbötig, sie ihr aufzuwärmen, indem er sie mit aller Kraft schlägt… Um Himmels willen, das glaubt sie ihm auch noch: sie versteckt die Hände, zeigt ihre blitzenden weißen Zähne, sie windet sich… Ach, jetzt ist es soweit: ihre Freundinnen schleppen sie zum Klavier…

grosses ich:

Moderne Musik?

kleines ich:

Gar keine Musik! Bravourstücke der Hände auf den Tasten. Hör zu. Dann werden wir klatschen.

grosses ich:

Sag mal, verblödest du?Allzu durchsichtig, mein Lieber: Du machst mir Angst!

kleines ich:

Keine Angst! Es gibt Schlimmeres als mich… Sieh doch, wie aufmerksam jetzt alle sind, wie hingegeben… Was für ein Schweigen! Aber sieh doch dort, diese zusammengezogenen Augenbrauen, diesen Abgeordneten mit dem runden roten Gesicht wie ein holländischer Käselaib… Ist das Vaterland in Gefahr? Nein, betrachte nur die Schultern und den Nacken der Marchesa, sie sieht heute abend wirklich wunderbar aus, wie eine Göttin von Rubens… Aber jetzt sag mir doch einmal im Ernst, unterhält dich das nicht, dieses Schauspiel?

grosses ich:

Aber sehr! Hör mal: Halte mir bitte eine Hand vor den Mund.

kleines ich:

Warum? Was tust du?

grosses ich:

Halte mir sofort eine Hand vor den Mund…

kleines ich:

Gähnst du?

grosses ich:

Ich gähne.(Salon im Hause X. „Intellektueller Salon“. Die Marchesa X  ist eine Schriftstellerin, die sich jedoch durch eine Besonderheit auszeichnet: daß sie außerdem eine schöne Frau ist.

Vierzigtausend Lire Apanage im Jahr.

Sie läßt Novellen drucken und „sentimentale Variationen“ ‑ so nennt sie das ‑ in den wichtigsten Zeitschriften. Es ist alles andere als selten, jeden Samstag unter den Tischgästen der Marchesa die Chefredakteure dieser Zeitschriften anzutreffen.

Der Ehemann, der Abgeordnete Marchese X., kahlköpfig, kurzsichtig, bärtig, ist vier Legislaturen alt, sitzt im Parlament auf der Rechten, ist aber ‑ versteht sich ‑ auch liberal und demokratisch gesinnt. Als leidenschaftlicher Sammler nennt er wie Seine Majestät eine wertvolle Medaillensammlung sein eigen, aber er hütet sie nicht eifersüchtig. Der beste Beweis: Er hat mehr als eine schöne Medaille an bekannte Schriftsteller verschenkt, die zu den Bewunderern seiner Frau zählen. Den Salon frequentieren zahlreiche Damen der Aristokratie und die Patronessen der Gesellschaft zur Pflege der Frauenbildung, Senatoren, Abgeordnete, Literaten und ausgewählte Journalisten.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mein kleines ich: hat sich nicht im geringsten darum bemüht, in die erlesene Schar dieser Auserwählten aufgenommen zu werden; aber es wäre auch Heuchelei, wollte man leugnen, daß die Einladung ihm eine große Freude und tiefinnere Befriedigung bereitet hat, worüber das Große Ich wiederum sich geärgert hat. Nun nimmt die Marchesa X, blond und wohlgerundet, strahlend und erbebend in ihrem gewagten, wenngleich nicht unschicklichen Décolleté, seinen Arm und führt ihn herum, um ihn den Damen vorzustellen, wobei sie einige flüchtige Hinweise auf das Große Ich fallen läßt, das darüber errötet, während das kleine ich ‑ Lächeln stets bereit, lebhafte Gestik ‑ sich tief verneigt.

Als die Vorstellung zu Ende ist, fragt das Große Ich das kleine ich:)

grosses ich:

Wo wirst du dich jetzt hinsetzen?

kleines ich:

Warte… laß mich ein bißchen schauen. Aber reiß dich zusammen! Du wirkst noch immer, als hätte dich die Würde des Dieners eingeschüchtert, der uns im Vorzimmer den Mantel abgenommen hat. Hör mal, wenn du dich hier in dich verkriechen willst, dann machst du’s nur schlimmer!

grosses ich:

Aber ich ersticke doch mein Lieber, was heißt da verkriechen! Du hast mich auf einem steifen Kragen aufgehängt, über den du kaum drübersiehst, du hast mich herausgeputzt wie eine Schaufensterpuppe…

kleines ich:

Na, na, nicht schlappmachen! Los, gib dir einen Ruck! Zum Teufel, die werden noch alle merken, daß wir nicht gewohnt sind, einen Frack zu tragen…

grosses ich:

Und was soll mir das schon ausmachen? Du hast es doch genau gewußt, du Idiot, daß ich mich hier nicht wohlfühlen würde, unter all diesen Leuten, in dieser lächerlichen Aufmachung. Du bist schuld, wenn ich einen miserablen Eindruck mache!

kleines ich:

Aber wenn ich doch eigens deinetwegen gekommen bin, um dich bekannt zu machen, damit die Leute dich sehen können…

grosses ich:

Wie einen Tanzbären auf dem Jahrmarkt?

kleines ich:

Himmel, du mußt es eben einmal lernen! Hör nur, hör, was die Leute dort reden, in dieser Gruppe von Abgeordneten und Zeitungsleuten. Sie sprechen von der russischen Revolution, sie bedauern Witte [1]. Schade! Ein Mann, der in wenigen Tagen, von seinem Verhandlungstisch aus, so viele glorreiche japanische Siege zunichte gemacht hatte, und nun… „Aber nein, meine Herrschaften!“ ruft der brillante Journalist Kappa. „Ich ersuche Sie, mir zu glauben, daß in Portsmouth nicht Herr Witte gesiegt hat!“ „Oh, oh! Und wer ist es dann gewesen, der gesiegt hat?“ „Nun, sein Frack, meine Herrschaften, sein Frack! Das gelbe Männchen, wenn es einmal in einem Frack steckt wie ein Pinguin, das wissen Sie doch selbst, dann ist es erbärmlich lächerlich…“

grosses ich:

(Kappa hat uns angesehen…)

kleines ich:

(Sei still! Hören wir lieber zu.) ‑ „Meine Herren, die Japaner, verschlagen wie sie nun einmal sind, hätten doch wissen müssen, daß man die gewohnte Kleidung nicht ungestraft ablegen darf…“

grosses ich:

(Hörst du? Hörst du?)

kleines ich:

(Halt den Mund!) ‑ „Nein, die Nationaltracht legt man nicht ungestraft ab, meine Herren, die Kleidung, die den natürlichen Gegebenheiten entspricht, der Hautfarbe und was weiß ich noch allem. Hätten Herr Witte und die anderen Gäste sich einer Auswahl von japanischen Figurinen gegenübergesehen, wie wir sie üblicherweise auf den Fächern, den Vasen und den Paravents abgebildet sehen, und dabei denken müssen, daß von diesen Figurinen da, die wie ein schlechter Scherz wirkten, ein so wilder Sturm ausgegangen war und die heilige Mutter Rußland durchgeschüttelt hatte, dann, das versichere ich Ihnen, wären sie einigermaßen durcheinander gewesen und hätten nicht so leicht gesiegt. Stattdessen sahen sie den Herrn Koruma im Frack vor sich und haben ihn natürlich so ohne jeden Respekt behandelt wie das die Diener eines großen Herrn mit dem Bürgermeister eines kleinen Dorfes tun, der zum Galadiner aufs Schloß gebeten worden ist…“

grosses ich:

Bravo! Ich hoffe, das wird dir eine Lehre sein!

kleines ich:

Aber das sollte doch eher dir eine Lehre sein, meine ich! Schließlich hast du im Frack Triumphe gefeiert! Und glaube mir, heutzutage… Still! Da kommt ein Herr auf uns zu…

grosses ich:

Geh ihm aus dem Weg! Schau woanders hin!

kleines ich:

Halt still! Da ist er schon… Er sagt, er kennt deinen Namen… er hat etwas von dir gelesen. Ach, zu gütig von Ihnen… zu gütig… Laß mich doch zuhören, zum Donnerwetter, was er sagt. Aha, er fragt uns, ob wir schon lange in Rom sind. Was halten wir davon? Na los, gib mir einen schönen Satz über Rom ein…

grosses ich:

Sag ihm, Rom beginnt fast ein bißchen Paris zu ähneln.

kleines ich:

Bravo! Hörst du? Der Herr stimmt zu… Na los, benimm dich! Lächle nicht so komisch… Da haben wir’s: Der Herr fragt uns, weshalb wir lächeln. Er meint, Paris wäre freilich…

grosses ich:

Aber das ist doch klar, zum Teufel! Du kannst ihn trösten: Natürlich ist Paris etwas ganz anderes! Paris ist Paris! Das gibt’s nur einmal ‑ sag’s ihm auf Französisch! Rom dagegen, da halten wir schon beim „dritten Rom“, und ehe das Paris wird…

kleines ich:

Jetzt lächelt der Herr! Du bist schuld, das er weitergegangen ist… Und jetzt hast du einen Feind mehr! Ach! Du bist wirklich unverbesserlich! Was ist das nur für eine Freude daran, alle Leute in die Flucht zu schlagen! Und dann beklagst du dich, daß dich niemand beachtet! Wenn du doch nicht redest, wenn du dich nicht rührst, wenn du doch in keiner Weise die Aufmerksamkeit der Leute auf dich ziehst! Willst du denn wirklich bloß mir allein da drinnen die Seele zum Vertrocknen bringen? Rede doch! Wie willst du denn sonst, daß die Leute dich kennen lernen?

grosses ich:

Willst du wirklich, daß mich die Leute kennen lernen, wenn ich hierher komme, und damit deine Kleider und Dummheit zur Schau stelle?

kleines ich:

Aber mir wäre es lieber, wenn du stattdessen einmal die Leute kennen lerntest, wie sie wirklich sind, nicht wie du sie dir vorstellst. Während ich rede und, um niemanden zu kränken, na meinetwegen, Blödheiten von mir gebe, mach du dir doch die Mühe und beobachte ‑ nur nicht zu insistent ‑ was um dich herum vorgeht, und glaube mir, du wirst hier mehr und nutzbringendere Studien betreiben als in deinen vielen Büchern. Hörst du, wie man plaudert, wie man vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne Pedanterei, ohne Intoleranz? Nein, tiefe Ideen, sind es nicht, und keine Leidenschaft, das ist schon richtig! Aber was für ein lebhafter Geschmack, was für eine angeregte Konversation, welche exquisite Vollendung in Umgangsformen und Sprache… Sieh dir diese jungen Damen an: das sind Intellektuelle, natürlich, da gibt es keine Debatte; aber trotzdem, diese Schultern, diese Brüste! Und dennoch, wie sie da ganz ruhig vor sich hinblicken, als hätten sie nicht den geringsten Verdacht, sie könnten so halbnackt dastehen, wie sie es tun… Und die armen Ehemänner! Wer weiß, wie viele in diesem Augenblick denken: „Käme doch nur wieder die Zeit des Feigenblatts! Denn, was die Nacktheit anbelangt… Heiliger Gott, nachdem wir ein Vermögen ausgegeben haben, um unsere Frauen zu bekleiden, da haben wir sie: jetzt zeigen sie erst recht die nackte Haut…“ Los, los, laß den Blick nicht zu tief dringen! Man muß dieses Leben flüchtig genießen, wie eine Illusion, die vorüberfliegt, wie ein glänzendes Phantasiebild, das sich in Rauch auflöst… Oh! Sieh dich doch einmal in diesen Spiegel da… Du bist ja rot im Gesicht wie Klatschmohn!… Dieser Duft… Du läßt dich zu sehr erregen, was?, du großer Mann… Schluß! Schluß! Ein bißchen Luft schöpfen am Fenster…

grosses ich:

Wäre es nicht besser nach Hause zu gehen?

kleines ich:

Nein, komm her, komm hierher ans Fenster!

grosses ich:

Hier hat man wenigstens frische Luft…

kleines ich:

Das ist ein Unterschied, was? Wie dunkel es ist! Und wie düster da alles wirkt… Schau nur, diese Lampions dort, und diese Bäumchen auf dem Platz… der schwankende Widerschein der Gaslampen auf dem Pflaster… und diese beiden Wagenlaternen, die sich langsam vorwärts bewegen… Was für eine unheimliche Düsterkeit! ‑ He, aufgepaßt! Man ruft uns… komm… Die Marchesa fragt, ob wir uns langweilen…

grosses ich:

Aber ich amüsiere mich doch königlich!

kleines ich:

Hm, aufgepaßt, hier: Jetzt sind wir unter den Damen. Sie sprechen von dem jungen Herzog von Orléans… Sie sagen, er beginnt, den Weg für seine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten, um wieder König zu werden. Er hat eine Reise zum Nordpol gemacht. Sie fragen dich, was du davon hältst…

grosses ich:

Na! Das muß wohl wirklich eine ungeheure Befriedigung sein, wenn man sagen kann: „Hier bin ich: Ich habe den Pol erreicht! Kein Mensch weiß das, aber ich stehe nun mit der Zehenspitze bloß eines Fußes auf nichts geringerem als dem einen Ende der imaginären Rotationsachse der Erde. Hier ist nichts aufgeschrieben; aber hier zu stehen ist nicht dasselbe wie ein paar Schritte weiter drüben zu stehen. Hier ist der richtige Punkt. Ja freilich, Eis ist da wie dort; eine Hundekälte; und keine Menschenseele ist zu sehen. Aber ich stehe hier erhöht, mehr als jeder König auf seinem Thron!“ Vielleicht wird der junge Herzog von Orléans, nachdem er einmal den Pol erreicht hat, sich ja damit zufrieden geben, auf Dauer ein bißchen tiefer zu sitzen, nämlich auf dem französischen Thron. Aber haben uns die Zeitungen nicht erzählt, daß er statt des Pols eine Insel entdeckt hat und sie Terre de France, Eiland Frankreichs genannt hat? Also das verstehe ich nicht! Terre de France, und dann kehrt er zurück… Er hätte sich doch einstweilen… na, um einmal einen Anfang zu machen ‑ zum König dieses kleinen Frankreich ausrufen können…

kleines ich:

Vielleicht war es dort zu kalt. Dafür gibt es einen anderen Kaiser, der kann nicht in seinem Reich bleiben, weil es dort zu heiß ist. Dort das Eis des Polarmeers; hier die Sanddünen der Wüste.

grosses ich:

Aber Lebaudy [2], der hat sich doch wenigstens zum Kaiser ausgerufen…

kleines ich:

Bravo! Siehst du? Jetzt hast du diese schönen Damen zum Lachen gebracht… Ja, wenn du nur wolltest… Still! Was ist los? Die Leute stehen auf…

grosses ich:

Wird getanzt? Wenn getanzt wird, gehen wir sofort nach Hause! Hör mal, da laß ich mit mir nicht reden… Gehen wir nach Hause!

kleines ich:

Es wird ja nicht getanzt, du alter Brummbär! Hörst du nicht? Fräulein B. wird uns etwas vorspielen. Sie läßt sich nur noch ein wenig bitten. Sie hat eiskalte Hände, die Arme, sie kann nicht! Sieh nur, sieh: Ein junger Mann macht sich erbötig, sie ihr aufzuwärmen, indem er sie mit aller Kraft schlägt… Um Himmels willen, das glaubt sie ihm auch noch: sie versteckt die Hände, zeigt ihre blitzenden weißen Zähne, sie windet sich… Ach, jetzt ist es soweit: ihre Freundinnen schleppen sie zum Klavier…

grosses ich:

Moderne Musik?

kleines ich:

Gar keine Musik! Bravourstücke der Hände auf den Tasten. Hör zu. Dann werden wir klatschen.

grosses ich:

Sag mal, verblödest du?Allzu durchsichtig, mein Lieber: Du machst mir Angst!

kleines ich:

Keine Angst! Es gibt Schlimmeres als mich… Sieh doch, wie aufmerksam jetzt alle sind, wie hingegeben… Was für ein Schweigen! Aber sieh doch dort, diese zusammengezogenen Augenbrauen, diesen Abgeordneten mit dem runden roten Gesicht wie ein holländischer Käselaib… Ist das Vaterland in Gefahr? Nein, betrachte nur die Schultern und den Nacken der Marchesa, sie sieht heute abend wirklich wunderbar aus, wie eine Göttin von Rubens… Aber jetzt sag mir doch einmal im Ernst, unterhält dich das nicht, dieses Schauspiel?

grosses ich:

Aber sehr! Hör mal: Halte mir bitte eine Hand vor den Mund.

kleines ich:

Warum? Was tust du?

grosses ich:

Halte mir sofort eine Hand vor den Mund…

kleines ich:

Gähnst du?

grosses ich:

Ich gähne.

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