Auswirkungen eines unterbrochenen Traums – Audiolesungen

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Stimme von Giuseppe Tizza. 
Um es genauer zu sagen, muß ich diesen Traum wohl in den ersten Morgenstunden getrĂ€umt haben, genau in dem Augenblick, in dem ein plötzlicher LĂ€rm vor der TĂŒre des Zimmers mich weckte, ein Streit zwischen Katzen, die durch weiß Gott welche Schlupflöcher stĂ€ndig in mein Haus kommen, wahrscheinlich angezogen von den vielen MĂ€usen, die hier Quartier aufgeschlagen haben.

Erstveröffentlichung in “Corriere della Sera”, 9 Dezember 1936,

Auswirkungen eines unterbrochenen Traums. Hörbuch
Immagine dal Web

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Auswirkungen eines unterbrochenen Traums

Ich wohne in einem alten Haus, das den Eindruck eines Trödlerladens macht. In einem Haus, das seit wer weiß wie vielen Jahren Staub geschluckt hat.

Das stĂ€ndige Halbdunkel, das dieses Haus bedrĂŒckt, hat etwas von der steifen AtmosphĂ€re der Kirchen an sich; in ihm steht unbeweglich der muffige, alte und welke Geruch der zerfallenden Möbel in allen Formen, mit denen es vollgestopft, und der vielen Stoffe, mit denen es geschmĂŒckt ist, teure, zerrissene und ausgebleichte Stoffe, ĂŒberall ausgebreitet und aufgehĂ€ngt, in Form von Decken, VorhĂ€ngen oder Baldachinen. Ich trage meinen Teil bei zu diesem Gestank, indem ich den ganzen Tag meine alten, verkrusteten Pfeifen rauche und damit die Luft verpeste. Nur dann, wenn ich von draußen zurĂŒckkomme, fĂ€llt es mir ĂŒberhaupt auf, daß man in meinem Haus gar keine Luft kriegt. Aber fĂŒr einen, der ein Leben fĂŒhrt wie ich… Aber genug: lassen wir das.

Im Schlafzimmer befindet sich eine Art Alkoven auf einer Plattform, zu dem man ĂŒber zwei Stufen hinaufsteigt. Oben ist die Zimmerdecke, der StĂŒtzbalken liegt in der Mitte auf zwei gedrungenen SĂ€ulen auf. Auch hier BaldachinvorhĂ€nge, die das Bett verbergen sollen, sie laufen auf Messingstangen hinter den SĂ€ulen. Die andere HĂ€lfte des Zimmers dient als Arbeitsraum. Unter den SĂ€ulen steht ein Sofa: ehrlich gesagt ist es sehr bequem, mit jeder Menge darauf aufgetĂŒrmter Kissen, und davor ein massiver Tisch, der als Schreibtisch verwendet wird; zur Linken  ein großer Kamin, den ich nie anzĂŒnde; in der gegenĂŒberliegenden Wand, zwischen zwei Fensterchen, ein altes Regal mit BĂŒcherleichen, die in vergilbtes Pergament gebunden sind. Auf dem Kaminsims aus geschwĂ€rztem Marmor ist ein halb gerĂ€uchertes Bild aus dem siebzehnten Jahrhundert aufgehĂ€ngt, eine Darstellung der BĂŒĂŸenden Magdalena, ich weiß nicht, ob es ein Original oder eine Kopie ist, aber selbst wenn es eine Kopie sein sollte, hat es einen gewissen Wert. Die lebensgroße Figur liegt auf dem Bauch ausgestreckt in einer Höhle; ein auf den Ellbogen gestĂŒtzter Arm hĂ€lt den Kopf; die gesenkten Augen bemĂŒhen sich, bei dem Licht einer neben einen TotenschĂ€del auf den Boden gestellten Öllampe in einem Buch zu lesen. Sicherlich, das Gesicht, die prĂ€chtige FĂŒlle der offenen rötlichen Haare, die eine Schulter und die Brust frei lassen, sind in dem Schein dieser Öllampe wunderschön.

Das Haus gehört mir und gehört mir auch wieder nicht. Es gehört mit dem gesamten Mobiliar einem Freund von mir, der es mir vor drei Jahren, als er nach Amerika aufbrach, als Garantie fĂŒr einen grĂ¶ĂŸeren Geldbetrag ĂŒberließ, den er mir noch schuldete. Dieser Freund hat sich natĂŒrlich nie wieder gemeldet, und trotz aller Nachfragen und Nachforschungen, die ich angestellt habe, ist es mir nicht gelungen, irgendeine Nachricht von ihm zu erhalten. Sicher ist nur, daß ich noch nicht ĂŒber das Haus und seinen Inhalt verfĂŒgen kann, um mir das Meine zurĂŒckzuholen.

Nun, ein AntiquitĂ€tenhĂ€ndler aus meinem Bekanntenkreis hat sich in diese BĂŒĂŸende Magdalena verliebt, und neulich erst fĂŒhrte er mir einen fremden Herrn ins Haus, um sie ihm zu zeigen.

Der Herr, um die vierzig, groß, mager, kahlköpfig, trug strengste Trauer, wie man es in der Provinz noch zu tun pflegt. Sogar das Hemd war ein Trauerhemd. Aber auch auf seinem eingefallenen Gesicht war noch das UnglĂŒck zu lesen, das ihn vor kurzem heimgesucht hatte. Als er das Bild sah, wechselte er die Farbe und schlug plötzlich die HĂ€nde vor die Augen, wĂ€hrend der AntiquitĂ€tenhĂ€ndler ihn mit seltsamer Befriedigung fragte: „Ist es nicht wahr? Ist es nicht wahr?“

Jener, das Gesicht immer noch hinter den HĂ€nden verborgen, nickte mehrmals bejahend. Es schien, als wollten ihm die angeschwollenen Adern in dem kahlen SchĂ€del platzen. Aus der Tasche zog er ein schwarzgerĂ€ndertes Taschentuch und fĂŒhrte es an die Augen, um die hervorbrechenden TrĂ€nen aufzuhalten. Ich sah, wie sein Zwerchfell lange stumm erbebte, wĂ€hrend er gleichzeitig in einem fort schluchzend durch die Nase aufzog.

Alles ‑ auf sĂŒditalienische Weise ‑ sehr ĂŒbertrieben.

Aber vielleicht auch ehrlich.

Der AntiquitĂ€tenhĂ€ndler wollte mir erklĂ€ren, daß er seit seiner Kindheit die Frau dieses Herrn kannte, die aus demselben Dorf stammte wie er selbst: „Ich kann Ihnen versichern, sie war das genaue Abbild dieser Magdalena. Ich habe mich gestern daran erinnert, als mein Freund mir die Nachricht brachte, daß sie gestorben war, so jung noch, kaum einen Monat ist es her. Sie wissen, daß ich erst vor kurzem da gewesen bin, um dieses Bild anzusehen.“

„Ja, das schon, aber ich…“

„Ja, Sie sagten damals, Sie könnten es nicht verkaufen.“

„Und jetzt ebenso wenig.“

Ich fĂŒhlte mich von diesem Herrn am Arm gepackt, er warf sich mir beinahe weinend an die Brust und beschwor mich, es ihm abzutreten, um welchen Preis auch immer: Es wĂ€re sie, seine Frau, genau sie, sie so ‑ ganz und gar ‑ wie nur er allein, er als Ehemann, sie in der hĂ€uslichen IntimitĂ€t gesehen haben könne (und als er das sagte, spielte er sichtlich auf die nackte Brust an), und er könne sie mir nun nicht mehr vor den Augen lassen, das mĂŒsse ich doch verstehen, nun, da ich das wisse.

Ich sah ihn an, verblĂŒfft und konsterniert, als hĂ€tte ich einen Irren vor mir, denn es schien mir nicht möglich, daß er so etwas im Ernst sagte, das heißt, daß er im Ernst meinen könnte, daß das, was fĂŒr mich nichts anderes war als ein GemĂ€lde, an das ich nie irgend einen Gedanken verschwendet hatte, nun auch fĂŒr mich das PortrĂ€t seiner Frau werden konnte, so mit der entblĂ¶ĂŸten Brust, wie er sie allein in der hĂ€uslichen IntimitĂ€t erblickt haben konnte, somit also in einem Zustand, in dem er sie nicht mehr von einem Fremden ansehen lassen durfte.

Das Seltsame einer solchen Forderung rief bei mir ein unwillkĂŒrliches Lachen hervor.

„Aber nein, sehen Sie doch, lieber Herr: Ich habe Ihre Frau ja nie gekannt; ich kann daher an dieses Bild gar nicht den Gedanken knĂŒpfen, dessen Sie mich verdĂ€chtigen. Ich sehe da bloß ein GemĂ€lde mit einem Bild, das… ja, das zeigt…“

HĂ€tte ich das bloß nie gesagt! Er pflanzte sich vor mir auf, als wollte er mir an die Gurgel springen, und schrie:

„Ich verbiete Ihnen, sie jetzt anzusehen, so, in meiner Gegenwart!“

Zum GlĂŒck griff da der AntiquitĂ€tenhĂ€ndler ein, der mich um Entschuldigung bat, um Mitleid mit diesem armen Mann, der förmlich von Sinnen war; er sei stets bis zum Wahnsinn eifersĂŒchtig auf seine Frau gewesen, die er bis zum letzten Atemzug mit einer beinahe krankhaften Liebe geliebt habe. Dann wandte er sich an ihn und beschwor ihn, sich zu beruhigen; es wĂ€re dumm, zu mir so zu reden, zu behaupten, es wĂ€re meine Pflicht, aufgrund all dieser intimen Dinge ihm das Bild abzutreten. Er wage auch noch, mir das Betrachten des Bildes zu verbieten? Ja, sei er denn wirklich ganz und gar von Sinnen? Und damit schleppte er ihn fort, wobei er mich abermals um Entschuldigung fĂŒr die Szene bat, er habe nicht geahnt, daß er mich so etwas werde erleben lassen.

Ich war so beeindruckt von dieser Geschichte, daß ich in der darauf folgenden Nacht davon trĂ€umte.

Um es genauer zu sagen, muß ich diesen Traum wohl in den ersten Morgenstunden getrĂ€umt haben, genau in dem Augenblick, in dem ein plötzlicher LĂ€rm vor der TĂŒre des Zimmers mich weckte, ein Streit zwischen Katzen, die durch weiß Gott welche Schlupflöcher stĂ€ndig in mein Haus kommen, wahrscheinlich angezogen von den vielen MĂ€usen, die hier Quartier aufgeschlagen haben.

Auswirkung des dergestalt plötzlich unterbrochenen Traums war es, daß die Trugbilder desselben, ich meine der Herr in Trauer und das Bild der Magdalena, die seine Frau geworden war, vielleicht nicht mehr die Zeit hatten, in mich zurĂŒckzukehren, und draußen blieben, in dem anderen Teil des Zimmers jenseits der SĂ€ulen, in dem ich sie im Traum gesehen hatte; so daß ich, als ich bei dem LĂ€rm aus dem Bett aufschreckte und den Vorhang mit einem raschen Zug beiseiteschob, vage ein Wirrwarr aus nacktem Fleisch und roten und tĂŒrkisfarbenen Stoffen auf den Kaminsims huschen und blitzartig wieder die Position im Bild einnehmen sah; und auf dem Sofa, unter all den durcheinandergeworfenen Kissen, da war er, dieser Herr, der sich eben aus der liegenden Haltung in die sitzende aufrichtete, nicht mehr schwarz gekleidet, sondern in einem Pyjama aus himmelblauer Seide mit weißen und dunkelblauen Streifen, der sich in dem allmĂ€hlich stĂ€rker werdenden Licht, das durch die beiden Fensterchen drang, allmĂ€hlich in der Form und in den Farben dieser Kissen auflöste und endlich verschwand.

Ich will nicht versuchen zu erklĂ€ren, wofĂŒr es keine ErklĂ€rung gibt. Niemand hat je das Geheimnis der TrĂ€ume ergrĂŒndet. Tatsache ist: Als ich, aufs höchste verwirrt, die Augen hob, um das Bild auf dem Kaminsims zu betrachten, da sah ich mit aller Deutlichkeit, wie die Augen der Magdalena fĂŒr einen Augenblick lebendig wurden, die Lider von der LektĂŒre abhoben und mit einen Blick zuwarfen, einen lebendigen, in zarter, diabolischer Schelmenhaftigkeit lachenden Blick. Vielleicht waren es die getrĂ€umten Augen der verstorbenen Gattin dieses Herrn, die sich fĂŒr einen Augenblick in den gemalten Augen des Bildes belebten.

Ich konnte keinen Augenblick lĂ€nger in dem Haus bleiben. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe mich anzuziehen. Von Zeit zu Zeit habe ich mich mit einem GefĂŒhl des Horrors, das Sie sich gut ausmalen können, umgewandt, um verstohlen diese Augen zu betrachten. Ich fand sie stets gesenkt und in die LektĂŒre versunken vor, wie sie in dem GemĂ€lde tatsĂ€chlich sind; aber nun war ich mir schon nicht mehr sicher, ob sie nicht, wenn ich nicht mehr hinsah, hinter meinem RĂŒcken wieder lebendig wurden, um mich immer noch mit diesem Schimmer von zarter, diabolischer Schelmenhaftigkeit anzublicken.

Ich stĂŒrzte in das GeschĂ€ft des AntiquitĂ€tenhĂ€ndlers, das ganz nahe bei meinem Hause liegt. Ich sagte ihm, wenn ich das Bild auch seinem Freund nicht verkaufen könne, könne ich diesem doch das Haus mit dem gesamten Mobiliar, das Bild eingeschlossen, versteht sich, zu einem sehr gĂŒnstigen Preis vermieten.

„Schon ab dem heutigen Tag, wenn Ihr Freund das so will.“

In meinem ĂŒberfallsartigen Angebot lag so viel Bangigkeit und Beklemmung, daß der AntiquitĂ€tenhĂ€ndler den Grund dafĂŒr erfahren wollte. Den Grund, den schĂ€mte ich mich freilich ihm zu enthĂŒllen. Stattdessen bat ich ihn, mich auf der Stelle zu dem Hotel zu begleiten, in dem sein Freund abgestiegen war.

Sie können sich meinen Zustand vorstellen, als ich diesen in seinem Hotelzimmer mir entgegenkommen sehe, bekleidet mit demselben Pyjama aus himmelblauer Seide mit weißen und dunkelblauen Streifen, in dem ich ihn im Traum gesehen und in meinem Zimmer beim Aufsetzen auf dem Sofa zwischen den durcheinandergeworfenen Kissen ertappt hatte.

„Sie kommen eben aus meinem Haus“, schrie ich ihn kreidebleich an. „Sie waren heute nacht in meinem Haus!“

Ich sah, wie er auf einem Sessel zusammenbrach, entsetzt, vor sich hinstammelnd: o Gott, ja, in meinem Haus, im Traum, da wĂ€re er tatsĂ€chlich gewesen, und seine Frau…

„Eben, eben, Ihre Frau ist aus dem Bild herausgestiegen. Ich habe sie dabei ertappt, wie sie wieder zurĂŒckging. Und Sie selbst haben sich mir im Licht auf dem Sofa in Nichts aufgelöst. Aber Sie werden zugeben, als ich Sie auf dem Sofa erwischte, konnte ich nicht wissen, daß Sie einen Pyjama besitzen wie den, den sie anhaben. Dann waren es also tatsĂ€chlich Sie, der im Traum bei mir zu Hause gewesen ist; Ihre Frau ist tatsĂ€chlich aus dem Bild herausgestiegen, wie Sie es getrĂ€umt haben. ErklĂ€ren Sie sich dieses Faktum, wie Sie wollen. Möglicherweise ist es einfach die Begegnung meines Traums mit dem Ihren. Ich weiß das nicht. Aber in meinem Haus kann ich nicht mehr bleiben, mit Ihnen, die Sie da im Traum zu Besuch kommen, und Ihrer Frau, die mich ansieht und dabei die Augen vom Bild aus öffnet und schließt. Den Grund, sich davor zu fĂŒrchten, der fĂŒr mich gilt, den können Sie nicht haben, denn es handelt sich ja um Sie selbst und Ihre Frau; gehen Sie also und holen Sie sich das in meinem Haus zurĂŒckgebliebenes Bild Ihrer selbst ab! Was tun Sie jetzt? Sie wollen nicht mehr? Sie fallen in Ohnmacht?

„Ach, Halluzinationen, meine Herren nichts als Halluzinationen!“, wurde unterdessen der Apotheker nicht mĂŒde auszurufen.

Ach, wie reizend sind doch diese wohlgefestigten Menschen, die angesichts eines Faktums, fĂŒr das es keine ErklĂ€rung gibt, sofort ein Wort finden, das nichts aussagt, und mit dem sie sich so wundersam einfach beruhigen:

„Halluzinationen“.

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