Singt-die-Episte – 1911
In Italiano – Canta l’Epistola (1911)
En français – Chante-l’Épître
Erstveröffentlichung: Corriere della sera, 31.12.1911. Keine wesentlichen Varianten.
aus dem Italienischen von Michael Rössner
Singt-die-Episte
“Hatten Sie schon die Weihen bekommen?”
“Nicht alle. Bis zum Subdiakon.”
“Aha, bis zum Subdiakon. Und was tut der Subdiakon?”
“Er singt die Epistel; er hält dem Diakon das Buch, während dieser das Evangelium singt; er bringt die Gefäße für die Meßfeier zum Altar; er hält während des Kanons das Hostiengefäß in den Schleier eingehüllt.”
“Ach, dann haben Sie also das Evangelium gesungen?”
“Nein, Signore. Das Evangelium singt der Diakon, der Subdiakon singt die Epistel.”
“Dann haben Sie also die Epistel gesungen?”
“Ich? Warum gerade ich? Der Subdiakon.”
“Der singt die Epistel?”
“Der singt die Epistel.”
Was gibt es bei alledem zu lachen?
Und doch: als auf dem luftigen Hauptplatz des Ortes, der vom Rascheln der welken Blätter erfüllt wurde und sich im raschen Wechsel von Wolken und Sonne bald verdüsterte, bald erhellte, der alte Doktor Fanti diese Fragen an Tommasino Unzio stellte, der eben das Priesterseminar verlassen und die Soutane ausgezogen hatte, weil er den Glauben verloren hatte, da verzog er sein Ziegengesicht so seltsam, daß alle Nichtstuer des Ortes, die im Kreis vor der “Apotheke zum Krankenhaus” saßen, in ein wildes Gelächter ausgebrochen waren, so daß die einen sich wanden vor lachen und die anderen sich den Mund zuhielten.
Das Lachen war herausgebrochen wie ein Durchfall, kaum daß Tommasino sich entfernt hatte, verfolgt von all diesen welken Blättern. Und dann hatte einer den anderen gefragt:
“Der singt die Epistel?”
Und der andere hatte geantwortet:
“Der singt die Epistel.”
Und so hängten sie Tommasino Unzio, der als Subdiakon aus dem Priesterseminar ausgetreten war, ohne Soutane, weil er den Glauben verloren hatte, den Spitznamen “Singt-die-Epistel” an.
Den Glauben kann man aus hunderttausend verschiedenen Gründen verlieren. Und im allgemeinen ist der, der den Glauben verliert, überzeugt – wenigstens im ersten Augenblick – daß er dafür etwas gewonnen hat; wenn schon nichts anderes, so wenigstens die Freiheit, gewisse Dinge zu tun und zu sagen, die er zuvor für mit dem Glauben nicht vereinbar gehalten hat.
Wenn der Grund für den Glaubensverlust aber nicht die überstarke Hunger nach dem Irdischen ist, sondern der Durst der Seele, der sich nicht mehr im Altarkelch und im Weihwasserbecken stillen läßt, dann wird der, der den Glauben verloren hat, nur schwer der Meinung sein können, er hätte dabei etwas anderes gewonnen. Allerhöchstens wird er sich im ersten Augenblick nicht über den Verlust beklagen, weil er anerkennt, etwas verloren zu haben, das für ihn schon keinen Wert mehr besessen hat.
Tommasino Unzio hatte also mit dem Glauben alles verloren, auch die einzige Position, die ihm sein Vater hätte verschaffen können, dank eines solcherart bedingten Legates von einem Onkel, der selbst Priester gewesen war. Der Vater war zudem nicht davor zurückgeschreckt, ihn mit Ohrfeigen und Fußtritten zu traktieren, ihn mehrere Tage bei Wasser und Brot einzuschließen, und ihm jede Art von Beschimpfungen und Verwünschungen ins Gesicht zu schleudern. Aber Tommasino hatte alles mit harter, bleicher Festigkeit ausgehalten und auf den Moment gewartet, in dem der Vater einsehen würde, daß dies nicht gerade die geeignetsten Mittel waren, um Glauben und Berufung zurückzuholen.
Es war nicht so sehr die Gewalttätigkeit, die ihm weh getan hatte, als vielmehr die Gemeinheit der Handlung, die so konträr zu dem Grund war, dessentwegen er den Priesterrock ausgezogen hatte.
Aber auf der anderen Seite hatte er verstanden, daß seine Wangen, sein Rücken, sein Magen dem Vater Gelegenheit bieten mußten, seine Wut über den Schmerz abzureagieren, den auch er fühlte, in der brennendsten Weise, da sein Leben unrettbar zusammengebrochen war und er im Haus zurückgeblieben war wie ein unnützes Hindernis.
Er wollte jedoch allen beweisen, daß er den Priesterstand nicht aufgegeben hatte, weil es ihn gelüstete, “seine Schweinereien auszuleben”, wie der Vater in vornehmer Weise im ganzen Ort herumerzählt hatte. Er verschloß sich in sich selbst, verließ sein Zimmerchen nicht mehr, es sei denn für einen oder den anderen einsamen Spaziergang hinauf durch die Kastanienwälder bis zum Pian della Britta oder hinunter über den Fahrweg ins Tal, zwischen den Feldern hindurch, bis zu dem verlassenen Kirchlein Santa Maria di Loreto, stets verloren in seinen Meditationen und ohne je den Blick oder das Gesicht zu jemandem anderen aufzuheben.
Allerdings ist es wahr, daß ein Körper, auch wenn der Geist sich in einem tiefen Schmerz oder in einem hartnäckigen, ehrgeizigen Streben verschließt, oft den Geist in dieser selbstgewählten Isolation läßt und heimlich und leise, ohne ihm etwas davon zu sagen, sein eigenes Leben beginnt, wieder anfängt, die gute Luft und die gesunden Speisen zu genießen.
So geschah es, daß Tommasino sich binnen kurzem und fast zum Hohn in dem wohlbeleibten, blühenden Körper eines feisten Mönchs wiederfand, während sein Geist über seinen verzweifelten Meditationen immer melancholischer und zarter wurde.
Was hieß da noch Tommasino! Ein Tommasone war er jetzt, der dicke Tommaso Singt-die-Epistel. Jeder hätte, wenn er ihn so sah, dem Vater recht gegeben. Aber im Dorf wußte man, wie der arme Bursche lebte; und keine Frau konnte sagen, daß er sie auch nur flüchtig von der Seite je angesehen hätte.
Kein Bewußtsein des eigenen Seins mehr haben, wie ein Stein, wie eine Pflanze; sich nicht einmal mehr an den eigenen Namen erinnern; leben, um zu leben, ohne zu wissen, daß man lebt, wie die Tiere, wie die Pflanzen; keine Gefühlsbindungen mehr, keine Wünsche, keine Erinnerungen, keine Gedanken; nichts mehr, das dem eigenen Leben Sinn oder Wert geben könnte. Einfach so: im Gras ausgestreckt, die ineinander verschlungenen Hände unter dem Nacken, in dem blauen Himmel die blendend weißen Wolken betrachten, die voll des Sonnenlichts sind; dem Wind lauschen, der in den Kastanienbäumchen des Waldes eine Art Meeresrauschen auslöst, und aus der Stimme dieses Windes und diesem Rauschen wie aus einer unendlichen Ferne die Nichtigkeit aller Dinge und die bange Leere des Lebens heraushören.
Wolken und Wind.
Ja, aber darin lag ja schon alles, wenn man bemerkte und erkannte, daß das, was da lichterfüllt über die grenzenlose blaue Leere dahinschwebte, Wolken waren. Weiß die Wolke etwa, daß sie eine Wolke ist? Und auch Baum und Stein wissen nichts von ihr und ebenso wenig von sich selbst.
Und er, der die Wolken bemerkte und erkannte, konnte auch – warum nicht? – an das Schicksal des Wassers denken, das zur Wolke wird, um dann wiederum Wasser zu werden. Es genügte ein armseliger Physiklehrer, um dieses Schicksal zu erklären; aber wer erklärte das Warum des Warum?
Oben im Kastanienwald, Axthiebe; unten im Stollen, Pickelhiebe.
Den Berg verstümmeln; die Bäume umlegen, um Häuser zu bauen. Dort, in diesem Gebirgsdorf, neue Häuser. Mühen, Plagen, Anstrengungen, Qualen jeder Art, wozu? Um endlich zu einem Schornstein zu kommen und dann aus diesem Schornstein ein bißchen Rauch dringen zu lassen, das sich sofort in der Leere des Raumes verliert.
Und so wie dieser Rauch jeder Gedanke, jede Erinnerung der Menschen.
Aber vor diesem weiten Schauspiel der Natur, vor dieser unermeßlichen grünen Ebene mit ihren Eichen, Ölbäumen und Kastanienbäumen, die von den Hängen des Cimino bis zum Tibertal ganz weit unten abfällt, fühlte er sich allmählich heiter werden, in einer weichen, gedächtnislosen Wehmut.
Alle Illusionen, alle Enttäuschungen, und die Schmerzen, die Freuden, die Hoffnungen und die Wünsche der Menschen erschienen ihm eitel und vergänglich angesichts des Gefühls, das die Dinge ausstrahlten, die all diese Regungen unbeweglich überdauerten. Beinahe wie die Schicksale von Wolken erschienen ihm vor dem Hintergrund der Ewigkeit der Natur die Einzelschicksale der Menschen. Man brauchte doch nur diese hohen Berge jenseits des Tibertals ansehen, die da weit in der Ferne, am Horizont verschwimmend, zart und fast wie Luftgebilde in der Dämmerung aufragten.
Ach, der Ehrgeiz der Menschen! Welche Siegesschreie, weil der Mensch begonnen hat, wie ein Vogel zu fliegen. Aber bitte, da fliegt ein Vogel: mit der allereinfachsten, problemlosesten Leichtigkeit, spontan begleitet von einem Freudentriller. Wenn man nun dagegen an den plumpen, röhrenden Apparat denkt, an das Erschrecken, die Bangigkeit, die Todesangst des Menschen, der einmal Vogel spielen will! Hier ein Rauschen und ein Trillern; dort ein lärmender, stinkender Motor und der Tod vor den Augen. Der Motor fällt aus, der Motor bleibt stehen; dann Lebewohl, Vogel!
“Mensch”, sagte Tommasino Unzio, wenn er so auf dem Gras ausgestreckt lag. “Mensch, hör auf zu fliegen. Weshalb willst du fliegen? Und wann bist du je geflogen?”
Plötzlich flog wie ein Lauffeuer durch den ganzen Ort eine Nachricht, die alle aufs höchste verblüffte: Tommasino Unzio, “Singt-die-Epistel”, war erst geohrfeigt und dann zum Duell gefordert worden, und zwar vom Oberleutnant De Venera, dem örtlichen Abteilungskommandanten, weil er, ohne irgend eine Erklärung dafür zu geben, bestätigt hatte, daß er am Abend zuvor an der Landstraße, die zu dem Kirchlein Santa Maria di Loreto führt, dem Fräulein Olga Fanelli, der Verlobten des Oberleutnants, das Wort “Idiotin” ins Gesicht gesagt hatte.
Es war eine Verblüffung gemischt mit Heiterkeit, die sich an eine Frage über diese oder jene Einzelheit der Nachricht zu klammern schien, um nicht mit einem Schlag in die Ungläubigkeit zu stürzen.
“Tommasino?” “Zum Duell gefordert?” “Idiotin, zu Signorina Fanelli?” “Bestätigt hat er’s?” “Ohne Erklärungen?” “Und hat er die Forderung angenommen?”
“Na hör mal, wo er doch geohrfeigt worden ist!”
“Und er wird sich wirklich schlagen?”
“Morgen, auf Pistolen.”
“Mit dem Oberleutnant De Venera auf Pistolen?”
“Auf Pistolen.”
Na, dann mußte der Grund wirklich überaus schwerwiegend sein. Allen schien, daß man nun nicht mehr an einer wütenden, bislang verborgen gehaltenen Leidenschaft zweifeln konnte. Und vielleicht hatte er ihr “Idiotin!” ins Gesicht geschrien, weil sie nicht ihn, sondern den Oberleutnant De Venera liebte. Das war doch klar! Und tatsächlich waren alle im Ort der Ansicht, daß nur eine Idiotin sich in diesen höchst lächerlichen De Venera verlieben konnte. Aber diese Meinung konnte natürlich er, der Oberleutnant, wiederum nicht teilen; und deshalb hatte er eine Erklärung verlangt.
Fräulein Olga Fanelli ihrerseits schwor ein um das andere Mal unter Tränen, daß sie nicht der Grund dieser Beschimpfung sein konnte; sie hatte den jungen Mann bloß zwei oder dreimal gesehen, und im übrigen hatte er nie auch nur die Augen gehoben, um sie anzusehen; und erst recht nicht, nie und nimmer, hatte er ihr auch nur das kleinste Anzeichen dafür gegeben, daß er für sie diese wütende heimliche Leidenschaft hegte, von der alle sprachen. Aber woher denn! Nein! Das war nicht der Grund! Irgend ein anderer Grund mußte hier verborgen sein! Aber was für einer? Ohne Grund schreit man schließlich einem Fräulein der Gesellschaft nicht einfach “Idiotin!” ins Gesicht.
Wenn alle, ganz besonders Vater und Mutter, die beiden Sekundanten, De Venera und das Fräulein selbst sich abmühten, den wahren Grund der Beschimpfung herauszufinden, so mühte sich Tommasino mehr als sie alle ab, weil er sie nicht sagen konnte, da er doch sicher war, daß niemand ihm geglaubt hätte, wenn er den Grund genannt hätte; im Gegenteil, alle hätten gedacht, er wolle ein Geheimnis, daß er nicht beichten konnte, zudecken, indem er sich darüber lustig machte.
Wer hätte denn tatsächlich geglaubt, daß er, Tommasino Unzio, seit einiger Zeit in seiner wachsenden und ständig tiefer werdenden Melancholie von einem überaus zarten Mitgefühl für alle Dinge erfaßt worden war, die zum Leben geboren werden und darin nur kurz überdauern, ohne das Warum zu kennen, in Erwartung von Verfall und Tod? Je schwächer und zarter bis an die Grenze der Selbstauflösung diese Formen des Lebens waren, desto mehr rührten sie ihn, manchmal bis zu den Tränen. Ach, auf wie vielfältige Weise man geboren wird, und nur für ein einziges Mal, und in dieser gegebenen, einzigartigen Form, denn nie waren zwei Formen völlig gleich, und für so kurze Zeit, manchmal nur für einen einzigen Tag, auf einem winzigen Raum, wo man doch rund um sich die unbekannte, riesige Welt hat, die enorme, undurchdringliche Leere des Mysteriums der Existenz. Als Ameise wurde man geboren, als winzige Fliege, als Grashalm. Eine Ameise, in der Welt! In der Welt eine kleine Fliege, ein Grashalm. Der Grashalm wurde geboren, wuchs, blühte, welkte dahin. Und fort auf ewig; nie wieder dieser, nie wieder!
Nun hatte er seit etwa einem Monat Tag für Tag die kurze Lebensgeschichte eines solchen Grashalms verfolgt; eines Grashalms zwischen zwei grauen, moosgefleckten Felsbrocken hinter dem verlassenen Kirchlein Santa Maria di Loreto.
Er hatte mit fast mütterlicher Zärtlichkeit sein langsames Wachstum zwischen noch niedrigeren Halmen begleitet, die ihn umstanden, und er hatte ihn zunächst schüchtern in seiner zittrigen Zartheit jenseits der beiden mit Weinstein bedeckten Felsbrocken aufragen sehen, als empfände er zugleich Angst und Neugierde, wenn er bewundernd des Schauspiels, das sich da unter ihm ausbreitete, ansichtig wurde: der grenzenlosen grünen Ebene. Dann hoch, hoch, immer höher, kühn, herausfordernd, mit einem roten Kränzchen an der Spitze wie ein Hahnenkamm.
Und jeden Tag hatte er eine oder zwei Stunden lang, während er ihn beobachtete und sein Leben mitlebte, mit ihm sich in dem leisesten Lufthauch gewiegt; ängstlich war er an manchen Tagen herbeigelaufen, wenn der Wind besonders stark blies, oder wenn er fürchtete, er käme nicht mehr zurecht, um ihn vor einer Herde Ziegen zu schützen, die jeden Tag um dieselbe Zeit hinter der Kirche vorbeiströmte und oft ein wenig stehen blieb, um zwischen den Felsbrocken da und dort ein Grasbüschel auszurupfen. Bislang hatten sowohl der Wind als auch die Ziegen diesen Grashalm verschont. Und die Freude Tommasinos war unermeßlich, wenn er ihn dort unversehrt wiederfand, mit seinem kecken Kränzlein an der Spitze. Er liebkoste ihn, er strich mit zwei behutsamen Fingern über ihn hin, er bewachte ihn förmlich mit seiner Seele und seinem Atemhauch. Und wenn er ihn des Abends allein ließ, befahl er ihn den ersten Sternen, die im Himmel der Abenddämmerung aufleuchteten, damit sie ihn gemeinsam mit all den anderen die ganze Nacht hindurch bewachen sollten. Und vor seinem geistigen Auge sah er förmlich aus der Ferne seinen Grashalm zwischen den beiden Felsbrocken, unter dem dichten Sternenhimmel, dessen leuchtende Augen auf dem schwarzen Firmament ihn bewachten.
Nun, und eines Tages, als er zur gewohnten Stunde dorthin kam, um eine Stunde mit seinem Grashalm zu verleben, als er nur noch wenige Schritte von dem Kirchlein entfernt war, hatte er hinter demselben, auf einem der beiden Felsbrocken sitzend, Fräulein Olga Fanelli vorgefunden, die sich dort vielleicht ein wenig ausruhen wollte, ehe sie ihren Spaziergang fortsetzte.
Er war stehen geblieben, weil er es nicht wagte, näher zu kommen, und wartete, daß sie ihm den Platz überließe, wenn sie sich ausgeruht hätte. Und tatsächlich war das Fräulein kurz darauf aufgestanden, vielleicht, weil es ihr auf die Nerven ging, sich so von ihm beobachtet zu sehen. Sie hatte sich kurz umgesehen; dann hatte sie zerstreut eine Hand ausgestreckt und ausgerechnet diesen Grashalm ausgerissen, um ihn sich mitsamt seinem schaukelnden Kränzlein zwischen die Zähne zu stecken.
Tommasino Unzio war es gewesen, als habe man ihm die Seele aus dem Leib gerissen, und unwillkürlich hatte er sie angeschrien: “Idiotin!”, als sie an ihm vorüberkam, mit diesem Hälmchen im Mund.
Nun, konnte er jetzt eingestehen, daß er dieses Fräulein wegen eines Grashalms solcherart beleidigt hatte?
Und der Oberleutnant De Venera hatte ihn geohrfeigt.
Tommasino war seines unnützen Lebens müde, müde der Plage seines blöden Fleisches, müde des Spotts, den alle mit ihm trieben, und der noch bitterer und verbissener geworden wäre, hätte er nach den Ohrfeigen es abgelehnt, sich zu schlagen. Er nahm also die Forderung an, aber unter der Bedingungen, daß das Duell unter den allerschwersten Bedingungen ausgefochten würde. Er wußte, daß der Oberleutnant De Venera ein ausgezeichneter Schütze war. Jeden Morgen legte er eine Probe davon ab, beim Scheibenschießen der Kompanie. Und er wollte sich mit ihm auf Pistolen schlagen, am nächsten Morgen, in der Dämmerung, eben dort, auf dem Scheibenschießplatz.
Eine Kugel in der Brust. Zunächst schien die Verwundung nicht so schwer; dann wurde der Zustand plötzlich schlimmer. Die Kugel hatte die Lunge durchstoßen. Hohes Fieber; Delirium. Vier Tage und Nächte verzweifelter Pflege.
Als die Ärzte zu guter Letzt erklärten, es wäre nichts mehr zu machen, bat, ja beschwor Frau Unzio, die so religiös war, ihren Sohn, er möge doch wenigstens vor seinem Tod wieder mit Gott ins Reine kommen. Und Tommasino ließ sich dazu herbei, einen Beichtvater zu empfangen, um seine Mamma zufriedenzustellen.
Als dieser ihn auf dem Totenbett fragte: “Aber weshalb, mein Sohn? Weshalb?”, da antwortete Tommasino mit halbgeschlossenen Augen und erloschener Stimme, unter einem Seufzer, der zugleich ein mildes Lächeln war, ganz einfach:
“Wegen eines Grashalms, Pater…”
Und alle dachten, er hätte wirklich bis zum letzten Augenblick im Delirium gesprochen.
© Michael Rössner.
In Italiano – Canta l’Epistola (1911)
En français – Chante-l’Épître
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