Sieg der Ameisen – 1936

In Italiano – Vittoria delle formiche (1936)

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Sieg der Ameisen
Cinthia Pinotti, Feuer in der Scheune, 2009. von der Website des Autors.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Sieg der Ameisen

Eine Sache, die an und für sich lächerlich sein mag, in den Auswirkungen aber schrecklich: Ein Haus, das ganz von den Ameisen in Besitz genommen wird. Und dieser verrückte Gedanke: Daß der Wind sich mit ihnen verbündet haben könnte. Der Wind mit den Ameisen. Verbündet, mit dieser Sorglosigkeit die ihm zu eigen ist, da er in seinem Schwung nicht für einen Augenblick anhalten kann, um darüber nachzudenken, was er gerade tut. Gesagt, getan, mit einer kräftigen Bö hatte der Wind gerade in dem Augenblick eingesetzt, in dem er beschlossen hatte, den Ameisenhaufen vor der Tür anzuzünden. Und gesagt, getan, stand nun das ganze Haus in Flammen. Als hätte er, um es von den Ameisen zu befreien, keinen anderen Weg gefunden als das Feuer: es anzuzünden..

Aber ehe wir zu diesem entscheidenden Punkt gelangen, wäre es gut, die vielen vorausgehenden Dinge zu bedenken, die doch irgendwie zu erklären vermögen, wie die Ameisen das Haus so sehr in Besitz hatten nehmen können, und wie sich in ihm der seltsame Gedanke eines Bündnisses zwischen den Ameisen und dem Wind hatte einnisten können.

 Heruntergekommen zu einem Hungerleider, aus der wohlhabenden Situation, in der ihn sein Vater bei dessen Tod hinterlassen hatte, verlassen von Frau und Kindern, die sich am Ende dazu durchgerungen hatten, allein zu leben, so gut es ging, endlich frei von seinen tyrannischen Übergriffen, die man beurteilen mochte, wie man wollte, vor allem aber waren sie unangemessen; er dagegen hielt sich für das Opfer, weil er zu nachgiebig gewesen war und bei ihnen nie Unterstützung gefunden hatte in seinen bescheidenen Vorlieben und seinen wohlüberlegten Ansichten; so lebte er allein, auf einem Fleckchen Erde, dem einzigen, was ihm noch von all den früheren Besitztümern, Häusern und Landgütern, geblieben war; ein Fleckchen künstlich urbar gemachter Erde unterhalb des Dorfes, am Rande des Tals, mit einer Hütte, die gerade drei Zimmer hatte, und in der früher der Bauer gewohnt hatte, der das Land in Pacht hatte. Nun wohnte er hier, der Signore, ärger herabgekommen als der elendste Bauer; er kleidete sich freilich immer noch in den Anzug eines Signore, der an seinem Körper in entsetzlicher Weise viel abgerissener und fleckiger aussah, als es an einem Bettler der Fall gewesen wäre, der ihn als Almosen bekommen hätte. Und dennoch erschien manchmal dieses schreckliche herrenhafte Elend geradezu fröhlich, wie gewisse Farbflicken, die die Armen auf ihre Kleider genäht tragen, und die beinahe so etwas wie ihr Banner darstellen. In dem langen, bleichen Gesicht mit den geschwollenen, aber lebendigen Augen lag etwas Ausgelassenes, das zu den fliegenden, halb grauen, halb rötlichen Locken des Kopfes paßte; und in den Augen war immer wieder so ein gewisses heiteres Aufblitzen, das jedoch gleich wieder erlosch bei dem Gedanken, wenn jemand es zufällig beobachtete, würde man ihn deshalb für verrückt halten. Er verstand es ja selbst, daß die anderen sich nur zu leicht von ihm eine solche Vorstellung machen konnten. Aber dabei war er doch wirklich zufrieden, endlich einmal alles so einrichten zu können, wie er es wollte; und er genoß mit einem unendlichen Behagen dieses Bißchen, ja Fast-Nichts, das ihm die Armut zu bieten vermochte. Es reichte nicht einmal dafür, jeden Tag das Herdfeuer anzuzünden, um sich wenigstens eine Bohnen- oder Linseneinsuppe zu kochen. Gefallen hätte ihm das schon, denn niemand verstand diese Speisen besser zuzubereiten als er, der mit so viel Kunstfertigkeit Salz und Pfeffer dosierte und in so kundiger Weise gerade das richtige Grünzeug hineinmischte, daß die Suppe schon während des Kochens allein durch ihren Geruch trunken machte; und sie aß sich wie Götterspeise. Aber er konnte auch darauf verzichten. Es reichte ihm, am Abend ein paar Schritte vor die Haustür zu machen und im Garten eine Tomate und eine Zwiebel zu pflücken, die das gewohnte Stück Brot begleiteten, das er mit größter Sorgfalt mit einem Taschenmesser in Scheiben schnitt und dann mit zwei Fingern Stück für Stück wie einen Leckerbissen in den Mund schob.

Er hatte diesen neuen Reichtum entdeckt, der einfach in der Erfahrung lag, daß so wenig schon für das Leben genug sein kann; und daß man dabei gesund sein kann und sich keine Gedanken machen muß; und daß man die ganze Welt für sich hat, wenn man kein Haus mehr hat und keine Familie und keine Sorgen und keine Geschäfte; ja, man ist dreckig und abgerissen, sei’s drum, aber in Frieden; und so sitzt man des Nachts unter dem Sternenhimmel auf der Schwelle einer Hütte; und wenn ein Hund, auch er ein streunender, davongejagter, sich an einen schmiegt, dann kann man ihn streicheln und ihm den Kopf tätscheln; ein Mensch und ein Hund, allein auf dieser Erde, unter dem Sternenhimmel.

Aber sich so ganz und gar keine Gedanken machen, das war auch wieder nicht wahr. Als er sich wenig später auf einem Haufen Stroh auf der Erde ausgestreckt hatte wie ein Stück Vieh, da begann er anstatt zu schlafen, an den Nägeln zu kauen und, ohne darauf zu achten, sich mit den Zähnen die Fingerkuppen bis aufs Blut wundzuscheuern, die ihn hernach, angeschwollen und eitrig geworden, einige Tage lang brennen würden. Er wälzte immer wieder die Gedanken an das, was er hätte tun sollen und nicht getan hatte, um sein Vermögen zu retten; und er krümmte sich vor Wut oder stöhnte auf vor Reue, als wäre sein Ruin erst gestern erfolgt, als hätte er erst gestern vorgetäuscht, er würde nicht bemerken, daß dieser Ruin binnen kurzem eintreten müßte und längst unvermeidbar geworden sei. Es war doch nicht zu glauben! Eines nach dem anderen hatte er sich seine Landgüter von den Wucherern entreißen lassen, eines nach dem anderen die Häuser, nur um über ein bißchen Geld verfügen zu können, von dem seine Frau nichts wußte, um sich eine kleine, vorübergehende Zerstreuung gestatten zu können (also, um der Wahrheit die Ehre zu geben, weder klein noch vorübergehend; es war unnötig, daß er jetzt noch nach Milderungsgründen suchte; jetzt galt es, sich ganz offen einzugestehen, daß er Jahre hindurch gelebt hatte wie ein Schwein, jawohl, so mußte man es wohl nennen: wie ein richtiges Schwein; Weiber, Wein und Würfelspiel) und es hatte ihm gereicht, daß seine Frau noch immer nichts gemerkt hatte, um weiterhin so zu leben, als ob auch er nichts von dem unmittelbar bevorstehenden Ruin gewußt hätte; und unterdessen hatte er seine Bitterkeit und seine heimlichen Rasereien an seinem unschuldigen Sohn abreagiert, der Latein studierte. Jawohl! So unglaublich das war: Auch er hatte sich wieder daran gemacht, Latein zu lernen, um den Sohn zu beaufsichtigen und ihm zu helfen; als hätte er sonst nichts zu tun und als wäre das tatsächlich Fürsorge und Zuwendung gewesen, die einen Ausgleich für die Katastrophe darstellen könnten, die er unterdessen für die gesamte Familie vorbereitete.

Diese Katastrophe war für seine geheime Verzweiflung dieselbe, der sein Sohn entgegenging, wenn er nicht zu verstehen vermochte, welche Bedeutung der Ablativus absolutus oder die adversative Form im Lateinischen hatten; und er versteifte sich darauf, ihm die zu erklären, das ganze Haus erzitterte von seinen Schreien und seinem Wüten angesichts der Verwirrung dieses armen Burschen, der allmählich das ganze wohl auch selbst verstanden hätte. Mit was für Augen er ihn einmal angesehen hatte, nach einer Ohrfeige! In der Heftigkeit seiner Gewissensbisse zerkratzte er sich nun bei dem Gedanken an diesen Blick seines Jungen das Gesicht mit verkrümmten Fingern und beschimpfte sich dabei: Schwein, Schwein, Vieh! Wie kann man so auf einen Unschuldigen losgehen!

Er erhob sich von dem Strohlager; er gab es auf zu schlafen; er setzte sich wieder auf die Schwelle der Hütte; und dort gelang es dem gedächtnislosen Schweigen der in der Nacht aufgehenden Campagna allmählich ihn zu beruhigen; diesem Schweigen, das nicht nur nicht gestört, sondern geradezu gesteigert zu werden schien von dem fernen Zirpen der Grillen, das aus dem Grund des großen Tals heraufdrang. In der Landschaft lag bereits die Melancholie der sterbenden Jahreszeit; und er liebte die ersten feuchten, verschleierten Tage, wenn diese ganz feinen Sprühregen begannen, die ihm, wer weiß warum, eine vage Sehnsucht nach der fernen Kindheit einflößten, diese ersten schmerzlichen und doch süßen Empfindungen, durch die man Zuneigung zu der Erde faßt, zu ihrem Geruch. Die Rührung weitete ihm die Brust; die Bangigkeit schnürte ihm die Kehle zu, und er begann zu weinen. Es war wohl Schicksal, daß es mit ihm auf dem Lande zu Ende gehen sollte. Aber daß es in dieser Weise geschehen sollte, das hatte er sich doch nicht erwartet.

Da er weder die Kräfte noch die Mittel hatte, selbst dieses bißchen Erde zu bestellen, das gerade so viel trug, daß man davon den Grundzins bezahlen konnte, der darauf lastete, hatte er es dem Bauern abgetreten, der das Gut nebenan gepachtet hatte, lediglich unter der Bedingung, daß der für ihn diesen Grundzins zahlte und ihm zu essen gab; wenig, fast als Almosen, und von dem, was die Erde selbst hervorbrachte: Brot und Gemüse, damit er sich, wenn ihm danach zumute war, jeden Tag eine Suppe kochen konnte.

Seit er diesen Vertrag abgeschlossen hatte, war er dazu übergegangen, all das, was er da ringsumher erblickte, Mandelbäume, Olivenbäume, Korn, Gartenfrüchte, als Dinge anzusehen, die nicht mehr ihm gehörten. Ihm gehörte nur noch die Hütte; aber wenn er sie als sein einziges Besitztum ansah, dann konnte er nicht umhin, mit dem bittersten Vergnügen der Welt darüber zu lächeln. Die Ameisen hatten sie bereits in Besitz genommen. Bislang hatte er sich dabei unterhalten, sie in unendlichen Prozessionen die Wände der Zimmer hinauflaufen zu sehen. Sie waren so viele, daß er manchmal meinte, die Wände würden förmlich unter ihnen erzittern. Aber noch mehr Spaß hatte er daran, sie in allen Richtungen kreuz und quer, als gehörten sie ihnen, über die merkwürdigen herrschaftlichen Möbel laufen zu sehen, die aus seinem ehemaligen Stadthaus stammten, von dem Zusammenbruch der Familie übrig geblieben und dort in der Hütte in buntem Durcheinander aufgestellt worden waren, alle mit einer dicken Staubschicht darauf. In seinen Stunden der Muße hatte er, um sich zu zerstreuen, sich sogar darangemacht, sie zu studieren, diese Ameisen, Stunden um Stunden hatte er sie so beobachtet.

Es waren winzig kleine Ameisen, unglaublich leicht, dünn, zart und rosig, so daß ein einziger Atemhauch mehr als hundert von ihnen verblasen konnte; aber auf der Stelle kamen andere hundert von allen Seiten herbei; und was für eine Geschäftigkeit sie entwickelten; welche Ordnung in der Eile; diese Trupps hier, jene dort; ein Hin und Her ohne Rast; sie gerieten an ein Hindernis, machten ein Stück lang einen Umweg, aber dann fanden sie ihre Straße wieder und sicherlich verständigten und berieten sie sich untereinander.

Noch nie jedoch war es ihm so erschienen ‑ vielleicht gerade wegen ihrer Zartheit und Kleinheit ‑, als könnten sie zu fürchten sein, als wollten sie sich tatsächlich des Hauses und seiner selbst bemächtigen und ihn nicht mehr weiterleben lassen. Und dennoch hatte er sie schon überall gefunden, sogar in den Schubladen; er hatte sie an den Stellen herauskommen sehen, an denen er sie am wenigsten erwartet hätte, manchmal fand er sie sogar in seinem Mund, wenn er ein Stück Brot aß, das er für einen Augenblick auf dem Tisch oder sonstwo liegen gelassen hatte. Die Idee, er müsse sich im Ernst gegen sie verteidigen, im Ernst den Kampf gegen sie aufnehmen, die war ihm noch nicht gekommen. Sie kam ihm ganz plötzlich eines Morgens, vielleicht wegen der Stimmung, in der er sich befand, nach einer Schreckensnacht, die noch schwärzer gewesen war als alle anderen.

Er hatte sich die Jacke ausgezogen, um ein paar Ährenbündel in die Hütte zu tragen, zwanzig vielleicht, die der Bauer noch nicht in seinen Hof gebracht und hier im Freien liegen gelassen hatte. Der Himmel hatte sich über Nacht verdüstert, und der Regen schien unmittelbar bevorzustehen. Da er nun einmal ans Nichtstun gewohnt war, hatte ihn diese ungewohnte Mühe und diese blöde Vorsorge, die ihn im übrigen gar nichts anging, denn diese Ährenbündel gehörten ja wie alles andere dem Bauern, so sehr ermüdet, daß er, als er für das letzte Bündel in der schon ganz vollgestopften Hütte Platz suchte, einfach nicht mehr konnte, das Bündel vor der Tür absetzte und sich dazuhockte, um ein wenig auszuruhen.

Mit hängendem Kopf, die Arme auf die gespreizten Beine gestützt, ließ er zwischen den Beinen die Hände ein  wenig baumeln. Und auf einmal, da, sah er doch tatsächlich aus den Ärmeln seines Hemds über diese baumelnden Hände die Ameisen kriechen, die Ameisen, die also offenbar unter seinem Hemd über seinen Körper spazierten, als wären sie da zu Hause. Er geriet in Wut und beschloß, auf der Stelle diese Plage auszurotten. Der Ameisenhaufen war ja nur zwei Schritte von der Tür entfernt. Ihn anzünden!

Wie kam es nur, daß er nicht an den Wind dachte? Na, das ist eine gute Frage. Er dachte nicht an ihn, weil gar kein Wind ging, es ging ja gar kein Wind. Die Luft schien stillzustehen, in Erwartung des Regens, der über dem Land hing, in dieser schwer lastenden Stille, die dem Fallen der ersten Tropfen voranzugehen pflegt. Kein Blatt fiel vom Baum. Die Windbö kam ganz plötzlich und heimtückisch auf, kaum daß er das Strohbündel, das er vom Boden aufgelesen hatte, in Brand gesteckt hatte; er hielt es in der Hand wie eine Fackel; als er es senkte, um den Ameisenhaufen in Brand zu stecken, da packte die Bö das Feuer und trug die Funken bis zu dem Ährenbündel, das vor der Tür liegen geblieben war, und sofort flammte es auf und gab das Feuer an die anderen Ährenbündel weiter, die in der Hütte gestapelt waren, in der sich nun das Feuer prasselnd und alles mit Rauch erfüllend ausbreitete. Wie ein Verrückter warf er sich in die Glut, schreiend und mit erhobenen Armen, vielleicht in der Hoffnung, sie noch zu ersticken.

Als er von den herbeigeeilten Leuten herausgetragen wurde, bot er einen grauenhaften Anblick, so entsetzlich verbrannt und doch noch nicht tot, im Gegenteil, in höchster, wütender Erregung, mit den Armen fuchtelnd, die Flammen am Leib, auf den Kleidern und in den fliegenden Locken auf dem Kopf. Er starb wenige Stunden später in dem Spital, in das man ihn gebracht hatte. In seinem Delirium schimpfte er auf den Wind, den Wind und die Ameisen.

„Verbündet haben sie sich… verbündet…“

Aber man wußte ja längst, daß er verrückt war. Und dieses schreckliche Ende, das er nahm, das bedauerten die Leute, gewiß, aber doch mit einem gewissen Schmunzeln auf den Lippen.

© Michael Rössner.

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