Von der Nase in den Himmell – 1907

In Italiano – Dal naso al cielo (1907)

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Von der Nase in den Himmell
Immagine dal Web.

Erstveröffentlichung: “Il Marzocco”, 7. April 1907, dann in “Il Carnevale dei morti”, 1919.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Von der Nase in den Himmell

I.

Seit einer Woche hatten die wenigen Gäste des alten Hotels auf dem Gipfel des Monte Gajo das Vergnügen, den Herrn Senator Romualdo Reda sprechen zu hören.

“Na, endlich!”

Seit gut zwanzig Tagen war er schon dort oben, der berühmte Chemikprofessor und seines Zeichens ordentliches Mitglied der Accademia dei Lincei, aber er hatte noch kein Wort mit den anderen gewechselt. Er fühlte sich nicht recht wohl; er war müde, ja, man munkelte sogar, es habe ihn vor kurzem in Rom ein leichtes Unwohlsein im Laboratorium befallen, in dem er sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend aufzuhalten pflegte; und die Ärzte hätten ihn förmlich gezwungen, sich ein bißchen Ruhe zu gönnen und die Studien, die er in seinem Alter mit unbeugsamer Hartnäckigkeit und der üblichen strengen Präzision betrieb, wenigstens auf ein paar Monate zu unterbrechen.

Von derselben Strenge und Hartnäckigkeit war auch sein Verhalten im Leben bestimmt gewesen. Zweimal hatte man ihn wahrhaft bestürmt, das Amt eines Unterrichtsministers anzunehmen, und beide Male hatte er den wohlgemeinten Bitten eine entschiedene Ablehnung entgegengesetzt, weil er von seinen Studien und von seinen Pflichten als Lehrer nicht abgelenkt werden wollte.

Sehr klein gewachsen, mit einem fast ansatzlos aus den Schultern wachsenden Kopf, einem platten, ledernen, glattrasierten Gesicht, mit diesen wie zwei Taschen geschwollenen Augenlidern, unter denen seine Wimpern förmlich verschwanden, und diesen langen, grauen, glatten und stets etwas feuchten Haaren, die seine Ohren verbargen, sah er aus wie eine alte, geschwätzige Haushälterin.

Jeden Tag stieg er nachmittags zu dem großen freien Platz vor dem Hotel hinab, gefolgt von einem Hoteldiener, der ihm ein dickes Bündel Zeitschriften oder Zeitungen sowie ein oder das andere Buch nachtrug; dann vertiefte er sich auf einem Liegestuhl aus Rohrgeflecht für einige Stunden in seine Lektüre, im Schatten der majestätischen Buche, die den Höhenkamm beherrschte.

Nun ja, majestätisch, das war nur so eine Redensart, in Wahrheit mußte sie es wohl schon mehr als leid sein, da oben frei zu stehen, allen Winden preisgegeben; und sie zeigte es auch deutlich, daß sie die überaus große Ehre und das Glück, in diesen Tagen mit ihrem Blätterkleid eine so illustre Persönlichkeit gegen die Sonne schützen zu dürfen, gar nicht zu schätzen wußte. Man hätte meinen können, sie bemerke es gar nicht.

Auch das Hotel schien sich gar nicht dadurch geehrt zu fühlen, daß es eine solche Persönlichkeit beherbergen durfte; der Hotelier dagegen… ach, den mußte man nur mal ansehen, den Hotelier, er hatte sofort den anderen Gästen gegenüber das Gehabe eines höheren Diplomaten angenommen, und die Kellner… den Kellnern mußte man nur mal zuschauen, wie sie die anderen Gäste nun mit einer geradezu unbezahl­baren Verachtung bedienten, um nur ja deutlich zu machen, daß sie sich jetzt nicht mehr so sehr um die anderen kümmern konnten, da sie sich doch jetzt ganz und gar auf die Wünsche dieses einen konzentrieren mußten.

Der junge Anwalt Torello Scamozzi, der sich zum Zeitvertreib auch als Journalist betätigte, war darüber geradezu erzürnt; nicht so sehr seinetwegen, sagte er, als vielmehr wegen der Damen. Aber die Damen baten ihn in großzügiger Manier, er solle sich doch ihretwegen nicht exponieren.

Die Damen waren vier an der Zahl: die Gillis, Mutter und Tochter, Miss Green, eine zierliche, schon etwas ältli-che Engländerin, blaß und blond, immer mit Kopfschmerzen und Antipyrinen versehen, sowie die Frau des Herrn Doktor Sandrocca, der unter Ataxie litt und auf immer an den Rollstuhl gefesselt war.

Viel vernünftiger, das heißt viel praktischer, dachte ein anderer junger Gast, Leone Borisi, der Scamozzi das Vergnügen überließ, sich solcherart als Beschützer der Damen und besonders des liebenswürdigen und überaus lebhaften Fräuleins Ninì Gilli aufzuspielen, um einstweilen selbst den Rollstuhl des Herrn Doktor Sandrocca die Bergwege hinunterzuschieben, unter die Roßkastanienbäume; mit einer Hand den Rollstuhl zu schieben und mit der anderen die Taille der Frau des guten Doktors zu umfassen, die eine Brünette mit Löckchen war, mit einem kerzengeraden Näschen und leuchtenden Augen, eine besonders anziehende Person. Ach, nur so, natürlich! Ganz unschuldig, sozusagen aus Zerstreutheit, hinter dem Rücken des Mannes, der in einem fort lachte, lachte und plapperte und seine Pfeife rauchte, ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten.


II.

Das Wunder, seine Exzellenz, den Herrn Senator Reda, zum Sprechen zu bringen, das hatte ein neuer Gast bewirkt, der auf den ersten Blick bei den vier Damen ein Nasenrümpfen und bei dem Hotelier ein ärgerliches Verziehen der Mundwinkel hervorgerufen hatte.

Schweißtriefend, die Kleider in Unordnung, mit seinem rasierten Stierschädel und den dicken Speckfalten im Nacken, den Augengläsern, die ihm immer wieder von der Kartoffelnase rutschten und diesen riesigen, verwaschenblauen Augen, die ständig unterwegs zu sein schienen, um irgendetwas in den Blick zu bekommen, und so den Kopf zu gewissen seltsamen und ruckartigen Drehungen veranlaßten, die an einen Ochsen denken ließen, der sich verzweifelt vom Joch zu befreien sucht: die Erscheinung des Herrn Professor Dionisio Vernoni war wirklich nicht dazu angetan, Vertrauen zu erwecken. Aber wenn man ihn dann reden hörte…

Vielleicht litt der Professor Dionisio Vernoni in seinem Inneren an den vulkanischen Durcheinander der vielen Leidenschaften, die seine mächtige Brust verbarg; aber das bißchen, was davon nach außen drang, reizte nur zum Lachen. Zum Lachen vor allem deshalb, weil er mit all diesem Riesenberg schwitzenden Fleisches, den er mit sich herumschleppte, ein unverbesserlicher Idealist war, der Professor Dionisio Vernoni; ein Idealist, der keine Ruhe gab, sollte es ihm auch an den Kragen gehen, der keine Ruhe geben konnte, keine Ruhe geben wollte angesichts des irritierenden Resignation der Wissenschaft vor den faszinierenden Problemen der Existenz, vor dem bequemen (oder feigen, wie er zu sagen pflegte) Rückzug des sogenannten philosophischen Denkens in die Grenzen des Erkennbaren. Und dazu verjagte er hier und dort mit seinen beiden Pranken die hartnäckigsten Fliegen, die sich auf seinem schweißüberströmten Gesicht niederlassen wollten.

Als er nun unter der Buche den Senator erblickte, der vor so vielen Jahren sein Lehrer an der Universität gewesen war (freilich waren alle Professoren einer ganzen Reihe von Universitäten seine Lehrer gewesen, denn er hatte wenigstens drei oder vier Studien abgeschlossen, dieser Dionisio Vernoni, eines nach dem anderen), da war er ihm, unter dem indignierten Staunen des Hoteliers entgegengelaufen, besser gesagt, er hatte sich auf ihn gestürzt und ihm mit aufgehobenen Armen entgegengerufen:

“Ach, Sie sind hier, verehrtester Herr Professor?”

Und beinahe unverzüglich war zwischen dem ehemaligen Schüler und dem alten Lehrer wieder eine jener lebhaften Diskussionen entflammt, die an der römischen Universität viele Jahre hindurch unvergeßlich geblieben waren.

Lebhaft waren sie ja eigentlich nur von einer Seite: von der Vernonis, denn der Senator antwortete trocken und schneidend, mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen, das zeigen sollte, daß er seinen bizarren Schüler der einen oder anderen Antwort würdigte, nur um seinen Spaß mit ihm zu haben.

Das hatten die anderen Gäste recht gut begriffen, die, einer nach dem anderen, allmählich hinzugetreten waren, um zuzuhören. Nun nahm man nach jeder Mahlzeit an diesem intellektuellen Duell unter der Buche teil, als wäre das eine besonderes Unterhaltungsprogramm.

Von Zeit zu Zeit brachen alle in Gelächter aus, bei einigen besonders treffenden Repliken des hochverehrten Herrn Senators, während Vernoni bald mit weitgeöffneten, starren Augen aufsprang, bald ganz verunsichert die beiden Pranken vor die Brust schlug, als wollte er eine wahre Lawine von wütenden Protestrufen zurückhalten.

Die alte Frau Gilli und Miss Green jedoch, die oft von dem begeisterten Feuer mitgerissen wurden, mit dem Professor Vernoni sich für seine edlen und großmütigen Theorien in die Bresche warf, neigten dann und wann unwillkürlich zustimmend den Kopf. Dann trug der Senator seine Erwiderung verärgert mit einem gewissen essigsauren Stimmchen vor, und Vernoni zog entweder die Schultern ein oder er murmelte mit bitterer Verachtung:[1]

“Also das Gras, was? Das Gras! Als ob wir alle miteinander Schafe wären…”

Bei diesen Worten brach Ninì Gilli in ein unwiderstehliches Gelächter aus und alle anderen fielen mit ein, während der Senator in die Runde blickte, als habe er nicht recht verstanden, und fragte:

“Das Gras? Wieso das Gras? Das verstehe ich nicht.”

“Das Gras! Das Gras!” wiederholte Vernoni, dem vor Ärger beinahe die Tränen kamen. “Was ist denn für die Schafe die einzige Wahrheit, die existiert? Das Gras. Das Gras, das unter ihren Mäulern wächst. Aber wir, Gott verdammich, wir können auch nach oben schauen, hochverehrter Herr Senator! Nach oben, nach oben, auf die Sterne!”

Als Antwort knurrte der Senator zwischen den Zähnen: “Auch nach oben, jawohl, wie schon Sallust sagt.”

“Wie schon Sallust sagt, jawohl!”, gab Vernoni postwendend zurück, “Aber auch, wenn man nach unten schaut, entschuldigen Sie… der Maulwurf zum Beispiel, Herr Senator: sehen wir uns den Maulwurf an, und folgen wir der Logik der Natur.”

“Aber nein!”

Wenn der Herr Senator Romualdo Reda die Natur nennen hörte, wurde er ernsthaft unruhig; mit beiden Händen auf die Armlehnen trommelnd, stieß er hervor:

“Ach, hören Sie doch auf! Tun Sie mir doch den Gefallen! Ach, Ihre Logik, lieber Vernoni! Das ist ja ganz nett, so im Spaß… Aber lassen wir doch bitte die Natur in Ruhe, ja!

“Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung”, ver-suchte Vernoni daraufhin rasch zu erklären, wobei er beide Hände vorstreckte. “Daß die Natur eine Logik besitzt, kann man etwa daran zweifeln? Aber wir haben doch einen mehr als schlagenden Beweis dafür in ihrer Ökonomie! Lassen Sie mich doch erklären, verehrtester Herr Professor! Der Maulwurf… warum ist beim Maulwurf das Sehorgan so schwach ausgebildet? Na, weil er unter der Erde leben muß! Logik der Natur! Und der Mensch? Verzeihen Sie, weshalb muß der Mensch die Sterne sehen können? Einen Grund muß es dafür doch geben, verzeihen Sie!”[2]

Alle verharrten einen Augenblick lang wie gebannt in Erwartung der Antwort des Herrn Senators; dieser aber schloß die müden, geschwollenen Augen, wiegte ein wenig das Haupt, öffnete die Lippen zu einem bescheidenen Lächeln verächtlichen Mitleids und enttäuschte alle, indem er rezitierte: “Gestit enim mens exilire ad magis generalia ut acquiescat: et post parvam moram fastidit experientiam. Sed haec mala demum aucta sunt a dialectica ob pompas disputationum.”

“Bacon?” fragte Professor Dionisio Vernoni, während er sich die Sturzbäche von Schweiß aus Stirn und Nacken wischte.

Und der Senator antwortete: “Bacon.”


III.

An einem dieser Tage freilich wurden alle Gäste des Hotels auf dem Berggipfel unerwartet früh von den schrillen Schreien Fräulein Ninì Gillis und ihrer Mutter geweckt. Was war geschehen?

Zunächst hieß es, die liebe Ninì, die beim Morgengrauen allein hinunter in das Klosterwäldchen spazieren gegangen war, habe eine unangenehme Begegnung gehabt.

Unangenehm? Wie denn? War sie vielleicht überfallen worden? Man hatte doch noch nie gehört, daß sich im Klosterwäldchen solches Gesindel… ach, es war gar kein Gesindel? Ja, was war das denn dann für eine Begegnung gewesen?

Die liebe Ninì, oder die Gillina, wie alle sie nannten, war aus dem Wäldchen heraufgelaufen, so schnell sie konnte, puterrot im Gesicht, schreiend, vor Schrecken dem Wahnsinn nahe. Nun wälzte sie sich in ihrem Zimmer, von einem schrecklichen Weinkrampf geschüttelt, von einer Seite auf die andere.

Ja, aber was war das denn nun wirklich für eine Begegnung gewesen, zum Teufel? Was hatte man ihr denn getan?

Das Klosterwäldchen lag am westlichen Abhang des Berges, dicht und undurchdringlich. Wäldchen war eigentlich gar kein Ausdruck: Alle diese Roßkastanien waren zwar dünn geblieben, hatten aber mittlerweile recht hohe, gerade Stämme angesetzt, die wie Nadeln aufragten: ein ausgewachsener Wald. “Klosterwäldchen” hieß es, weil auf einer kleinen Lichtung in der Mitte die verlassenen Ruinen eines alten Klosters lagen, mit dem Kirchlein an der einen Seite, dessen geheimnisvollen Innenraum man durch die Risse in dem vermoderten Tor gerade ein bißchen erahnen konnte.

Bleich und in höchster Erregung versuchte Scamozzi den Anwalt Borisi, ja sogar die Kellner, dazu zu bewegen, sich zu bewaffnen und mit ihm dort unten ins Wäldchen zu laufen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber was sollte es denn dort zu sehen geben? Wenn man doch noch nichts mit Sicherheit wußte! Was sagte denn Senator Reda dazu, der eben an das Bett des Fräuleins geeilt war? Denn er war auch Arzt, der Senator, wenngleich er diesen Beruf nie ausgeübt hatte.

Einzig Professor Dionisio Vernoni erklärte sich bereit, Scamozzi zu folgen. Aber der hatte kein rechtes Vertrauen zu ihm und tat, als höre und sähe er ihn nicht.

Na endlich, da war Reda! Ach, Gott sei Lob und Dank, er lächelte… Na…?

“Gar nichts, meine Herrschaften. Seien Sie ganz beruhigt. Eine leichte Psychose, die von selbst vorbeigeht, Ein kleiner Anfall von Hysterie, das ist alles. Sowas geht vorüber.”

Aber da trat Professor Dionisio Vernoni vor, mit zusammengezogenen Augenbrauen und zerzaustem Haar:

“Eine Psychose?” stieß er hervor. “Da unten im Klosterwäldchen? Wenn Sie von Psychose reden – ich weiß, worum es sich handelt! Ich weiß alles, alles! Fräulein Gilli hat gesehen! Fräulein Gilli hat gehört, auch sie!”

Scamozzi, Borisi, Doktor Sandrocca, seine Frau, Miss Green, alle wandten sich um und starrten ihn mit offenem Mund an:

“Gesehen… was denn gesehen?”

“Aber achten Sie doch nicht auf ihn, ich bitte Sie!” rief der Senator.

“Eine Halluzination, nicht wahr?”, schrie daraufhin Vernoni spöttisch und herausfordernd zurück. “Eine Psychose… ein Anfall von Hysterie… Und wie erklären Sie dann, daß auch ich, jawohl, mein Herr, auch ich, neulich gegen Abend, etwas gehört habe… ja, meine Herrschaften, ich habe etwas gehört, als ich allein in dem Wäldchen war, bei dem Kloster… eine Musik war es, eine… eine paradiesische Musik, die aus dem Kirchlein drang… Orgel und Harfen… eine göttliche Musik! Ich habe zu niemandem davon gesprochen; ich erzähle es jetzt, weil ich sicher bin, daß auch Fräulein Gilli es gehört hat, sie auch… Ich habe den Mund gehalten, weil ich mich geschämt habe, ich schwöre es, und auch, weil ich Angst hatte, jawohl! Ja, Angst hatte ich, und ich bin davongelaufen, so schnell ich konnte!

“Ach, jetzt hören Sie doch mal bitte auf, lieber Herr!” unterbrach ihn an dieser Stelle der Hotelier, der die Wirkung bemerkte, die seine Worte auf die anderen Gäste hatten. “Sie wollen mich wohl ruinieren! Ach, entschuldigen Sie, das sind doch Verrücktheiten! Nie hat man je etwas dergleichen erzählt! Niemand hat je irgendetwas gehört! Ein Glück, daß Seine Exzellenz hier ist… ich meine den Herrn Senator… eine Leuchte der Wissenschaft… und auch ein anderer hochgeschätzter Herr Doktor, der… na Gott sei Dank, er lacht, sehen Sie nur! Er lacht, und recht hat er… das ist ja wirklich zum Lachen, lieber Herr Doktor! Ein ganz simpler Anfall von Nervenüberreizung…”

“Von Hysterie”, verbesserte ihn der Senator.

“Natürlich, von Hysterie… und wenn das der Herr Senator sagt!”, schloß der Hotelier seine Rede. “Was heißt da Musik! Was heißt da Orgel! Was heißt da Harfen! Gehen wir doch alle gemeinsam dort in das Wäldchen… Ich lasse Ihnen dort das Frühstück servieren… Ein angenehmer, ganz und gar sicherer Ort, jawohl… wir werden auch die Kirche öffnen… Sie werden sehen…”

“Aber gibt es dort wirklich eine Orgel?” fragte Frau Sandrocca.

“Nein… das heißt… ja, es gibt eine und es gibt auch keine…” antwortete der Hotelier ein wenig verwirrt. “Sie können sich ja denken, wie die aussieht, nach so vielen Jahrhunderten… vielleicht hat irgendein Mäuslein… ach, das ist doch wirklich zum Lachen… zum Lachen ist das, was, meine Herrschaften?”

Und er lachte: er schon, jawohl, und auch Doktor Sandrocca, der ewig Lachende, lachte weiter. Die anderen hingegen lachten nicht, und sie zeigten auch keine große Lust, der Einladung zum Frühstück dort unten im Klosterwäldchen zu folgen. Was den Senator anging, der wandte der ganzen Gesellschaft verächtlich den Rücken und streckte sich auf seinem Stuhl aus Rohrgeflecht unter der Buche aus.

In diesem Augenblick stürzte in höchster Eile und mit ungewöhnlicher Heftigkeit, wenngleich ein Bein ihr, vielleicht durch die Erregung, steif geworden war, die alte Frau Gilli hinzu, um mit dem Hotelier ein Wörtlein zu reden.

Sie gab keinen Heller, nein, keinen roten Heller gab sie auf diese Erklärung seiner Exzellenz, des Herrn Senators, die ganz danach aussah, als sollte dadurch der Hotelier vor Schaden bewahrt werden. Aber was denn für ein Anfall von Hysterie, zum Teufel, wenn ihre Tochter doch nie und nimmer an solchen Spintisierkrankheiten wie der Schwangerenhysterie gelitten hatte! Oh, das war schnell gesagt! Und dann bleibt der schlechte Ruf an einem hängen, es wird getuschelt und verleumdet. Nein, nein, alles mußte seine Richtigkeit haben! Alles mußte seine Richtigkeit haben, für die Frau Gilli; das heißt alle sollten erfahren, was geschehen war; dann die Rechnung bezahlen und auf der Stelle Abfahrt! Auf der Stelle, denn ihre arme Tochter zitterte noch immer wie Espenlaub, vor lauter Schreck, und sie sagte, sie würde lieber sterben als weiter hierbleiben, sei es auch nur für eine einzige Nacht.

Und Frau Gilli begann somit zu erzählen, daß die arme Ninì wirklich die Orgel in dem Klosterkirchlein hatte spielen hören.

“Hören Sie? Hören Sie”, rief daraufhin Dionisio Vernoni triumphierend aus.

Die alte Dame brach ab, wie vom Donner gerührt, und fragte: “Ja, wie denn das? Sie… wie können denn Sie davon wissen?”

Und Vernoni gab zurück: “Ich weiß nichts davon; ich habe es vermutet, Signora! Ja, ich war sicher, mehr als sicher; denn ich habe es auch gehört!”

Verdattert und doch froh klatschte Frau Gilli in die Hände und rief: “Sehen Sie? Na also! Der Herr da kann ja wohl nicht unter Schwangerenhysterie leiden… würde ich meinen…”

Dionisio Vernoni ließ den anderen keine Zeit, über diese Überlegung zu schmunzeln, sondern setzte schnell hinzu: “Orgel und Harfen?”

“Harfen? Von Harfen weiß ich nichts”, antwortete Frau Gilli, ein wenig erschrocken über die Art, wie er sie anstarrte. “Ninì spricht nur von einer Orgel, und sie sagt, sie wäre zuerst bloß erstaunt gewesen… erstaunt, daß jemand zu so früher Stunde in dieses verlassene Kirchlein gegangen sein konnte, um Orgel zu spielen. Sie dachte wirklich an gar nichts Außergewöhnliches, sie ging sogar hin, um nachzusehen… und dann… ich weiß nicht, ich weiß nicht genau, was sie gesehen hat… man kann sie da nicht recht verstehen… sie spricht von Mönchen… von einer Prozession… von brennenden Kerzen…”

Die alte Frau Gilli brach ihre Erzählung mittendrin ab, weil ein Stubenmädchen sie in höchster Eile zu ihrer Tochter rief, die einen neuen Weinkrampf bekommen hatte. Und da war der Augenblick des Professor Dionisio Vernoni gekommen, dem sich nun alle ganz instinktiv zuwandten. Und Professor Vernoni setzte sofort mit seiner üblichen Begeisterung ein; er sprach von Okkultismus und Mediumismus, von Telepathie und Weissagungen, von Apporten und Materialisationen; und vor den Augen seiner verdatterten Zuhörer bevölkerte er die Erde mit Wundern und Geistererscheinungen, jene Erde, von der der blödsinnige Stolz des Menschen annimmt, sie wäre nur von ihm selbst und von den paar Tieren bewohnt, die er kennt und die ihm dienstbar sind. Was für ein ungeheurer Irrtum! Es leben auf der Erde noch andere Wesen ein natürliches, ein ganz natürliches Leben so wie das unsere; Wesen, die wir im Normalzustand unserer Beschränktheit wegen nicht wahrnehmen können, die sich aber manchmal, unter besonderen Umständen, zu erkennen geben und uns mit Schrecken erfüllen; übermenschliche Wesen, in dem Sinn, daß sie unser armseliges Menschenwesen übersteigen, aber auch sie sind natürlich, ganz und gar natürlich, anderen Gesetzen unterworfen, die wir nicht kennen, oder besser, die unser Bewußtsein nicht kennt, denen wir aber vielleicht unbewußt auch folgen: nichtmenschliche Bewohner der Erde, elementare Wesenheiten, Geister der Natur jeglicher Art, die mitten unter uns leben, in den Felsen, in den Wäldern, in der Luft, im Wasser, im Feuer, unsichtbar, aber doch mit der Fähigkeit, bisweilen körperhafte Gestalt anzunehmen.[3]

Vor Ärger darüber, daß der Senator Reda nicht hinzukam, um mit ihm zu diskutieren, verstieg er sich absichtlich, um ihn zu provozieren, zu den phantastischesten Gedankenflügen, den kühnsten Vermutungen, den verführerischsten Erklärungs­versuchen, und brach zu guter letzt in eine grundlegende Anklage gegen die positive Wissenschaft aus, gegen manche sogenannte Wissenschaftler, die kaum eine Spanne weiter als ihre Nasenspitze blicken können (diesen Satz wiederholte er vier oder fünfmal): kalte, kurzsichtige, überhebliche Typen, die die Natur dazu zwingen wollten, sich ihren Experimenten zu unterwerfen, den Berechnungen ihrer Studierstuben, dem Bußgürtel ihrer armseligen Meßinstrumente und ihrer elenden Schwätzerkongresse.

Der Senator Romualdo Reda blieb stumm. Scamozzi, Borisi, Miss Green, Frau Sandrocca, beinahe entsetzt über die gewalttätige Aggressivität Vernonis, warfen von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zu ihm hinüber. Stumm und ungerührt lag der Senator Romualdo Reda auf seinem Liege­stuhl unter der Buche, die Augen geschlossen, als schliefe er. Endlich, als es ihm paßte, stand er auf und ging, ohne ein Wort zu sprechen, ohne irgendjemanden anzusehen, zwei Finger zwischen den Knöpfen der Weste durchgesteckt, still und ernst, wenngleich er doch von so winziger Statur war, das Weglein entlang, daß zum Klosterwäldchen führte.

“Gott segne ihn!”, rief der Hotelier und warf ihm eine Kußhand zu. Dann wandte er sich an Vernoni: “Sie, mein Herr, dürfen getrost sagen, was Sie wollen: Sie sind ganz frei! Aber sehen Sie: Das da ist die beste Antwort darauf!”

Und er wies mit der Hand auf den Senator, der allmäh­lich, winzig klein, unter den riesigen Roßkastanien des abschüssigen Weges verschwand.


IV.

Als Professor Dionisio Vernoni und Torello Scamozzi, die es sich nicht hatten nehmen lassen, in ritterlicher Weise die beiden Damen Gilli bis zum Bahnhof von Valdana zu begleiten, um dann den ganzen Tag in Valdana zuzubringen, spätabends müde und hungrig zu dem kleinen Hotel am Berggipfel zurückkehrten, fanden sie dort alle übrigen Gäste wie erstarrt vor, in einem Schweigen, das von unendlicher Bestürzung zeugte.

Der Herr Senator Romualdo Reda war noch immer nicht aus dem Klosterwäldchen zurückgekehrt.

Nach dem schrecklichen Abenteuer der Ninì Gilli und all den Reden, die da am Vormittag geführt worden waren – wie sollte man sich da eine so lange Verspätung des Senators erklären?

Leone Borisi beeilte sich, den beiden Freunden die neuesten Nachrichten weiterzugeben. Er erzählte, daß man zwei Kellner geschickt hatte, um den berühmten Mann zu suchen, daß sie zurückgekommen waren, ohne ihn gefunden zu haben, daß dann der Hotelier selbst mit einem anderen Kellner nochmals aufgebrochen war, weil er nicht sicher glauben konnte, daß die beiden wirklich bis zum Kloster gegangen waren; aber auch er hatte ihn nicht gefunden. Danach hatte man vermutet, daß der Senator, wütend über Vernonis Attacke, das ganze Wäldchen durchquert habe und zu Fuß bis in den nahegelegenen Flecken Sopri gelangt sei. Aber der Küchenjunge, den man nach Sopri geschickt hatte, war eben gerade zurückgekommen, ohne eine Spur oder eine Nach­richt entdeckt zu haben, und das, nachdem er – wie er be­hauptete – das ganze Dorf Haus für Haus abgegangen war.

“Um Himmelswillen”, schloß Borisi, “laßt euch ja nicht sehen; Sie vor allem nicht, Professor Vernoni! Der Wirt ist außer sich vor Wut. Der ist imstande und springt Ihnen an die Gurgel.”

“Na, das möchte ich doch sehen!”, erwiderte Professor Vernoni wütend. “Hören Sie, lieber Herr, es täte mir wirklich leid, wenn dem Herrn Senator Reda etwas Ärgeres zugestoßen wäre. Er ist herzkrank. Aber so eine winzigkleine Lektion… so ein kleines Orgelständchen, wissen Sie, wie gut das manchen Wissenschaftlern täte?”

Wenig später kam der Hotelier mit ein paar Windlichtern für eine allerletzte Expedition in das Wäldchen aus dem Keller zurück und tat, als bemerke er gar nicht, daß Vernoni und Scamozzi zurück waren.

“Meine Herrschaften”, sagte er, beinahe mit Tränen in den Augen, “wenn Sie die Güte hätten, mir beizustehen… ich lade Sie alle ein! Sie werden meinen Gemütszustand verstehen, bei der Verantwortung, die auf mir lastet.”

Obgleich sie todmüde waren, ließen sich Vernoni und Scamozzi nicht zweimal bitten. Die drei Kellner und der Küchenjunge zündeten die Windlichter an und los ging’s, zu acht, auf die Suche nach dem kleinen Senator, der sich zwischen den dichtstehenden Roßkastanienbäumen des steil abfallenden Wäldchens verloren hatte.

Trotz der allgemeinen Betroffenheit und der bangen Erwartung, die jeden von ihnen beseelte, gaben doch alle ihrer neugierigen Unruhe nach und ließen den seltsamen, phantastischen Eindruck des nächtlichen Wäldchens im rötlichen, rauchenden Licht dieser verzweifelt zuckenden Fackeln auf sich wirken. Auf Schritt und Tritt fuhren kolossale Schatten in die Höhe. All diese biegsamen, kerzengerade in den Himmel aufragenden Stämme färbten sich blutrot; bald schien es für einen Augenblick, als stellten sie sich alle in der Tiefe des Wäldchens zu beiden Seiten zum Spalier auf wie bei einer Parade, bald schien es wieder, als wirbelten sie alle kunterbunt durcheinander. Und das Knacken der trockenen Blätter und die Schreie der flüchtenden Eichhörnchen und der Vögel schmerzten die überreizten Sinne dieser unversehens zu nächtlichen Aufklärern gewordenen Männer.

Mehrmals schlug der Hotelier vor, sie sollten sich trennen, vielleicht immer zwei und zwei, um so das Unterholz zu durchstreifen, denn es wäre sinnlos, den Senator hier auf dem zum Kloster führenden Weg zu suchen. Aber niemand vermochte es, sich vom anderen zu lösen, zu stark war die instinktive Furcht, allein dem Ansturm dieser unerhörten, gewaltigen Eindrücke standhalten zu müssen.

Als die Gesellschaft zu dem Kloster gelangte, richteten sich aller Augen auf das vermoderte Tor des Kirchleins. Allen lief ein Schauder über den Rücken, als der Hotelier hinzutrat und mit einer Hand mehrmals dagegendrückte.

“Verschlossen!”

Scamozzi und Vernoni schlugen vor, man möge zwischen den Ruinen des Klosters suchen; aber der Hotelier versicherte, das hätte man schon bei den vorhergehenden Malen mit der größtmöglichen Sorgfalt getan. Im Wäldchen, im Wäldchen selbst, da galt es zu suchen, denn vielleicht war der Senator ins Unterholz geraten und hatte nicht mehr herausgefunden. Sie waren zu acht und hatten vier Fackeln! Also immer zwei und zwei, da half nichts! Ein Paar hier, ein Paar dort, ganz langsam und sorgfältig.

So geschah es. Die Suche dauerte ungefähr eine Stunde. Die eine oder andere Fackel erlosch und ließ sich nur mit großer Mühe wieder anzünden; dann begann einerseits der schreckenerregende Ort im Verein mit der Müdigkeit weniger düstere Bilder in den Männern zu erwecken; andererseits ließ er das Mißtrauen in den Erfolg des Unternehmens immer mehr wachsen. Die acht verständigten sich durch Rufe; sie fanden sich wieder auf dem Weg ein, von dem keines der Paare sich wirklich sehr weit entfernt hatte; und alle wurden sich leicht darüber einig, die Suche morgen bei Tageslicht fortzusetzen.

Diesmal begannen die acht vom Vorabend jeder für sich allein zu suchen, und das Wäldchen wurde in seiner ganzen Ausdehnung durchkämmt; ohne Ergebnis.

Endlich, ein Schrei! Er kam von der Lichtung her, wo die Ruinen des Klosters standen. Alle liefen hinzu, keuchend und atemlos.

Dort, genau unter den ersten Roßkastanien, vielleicht fünfzig Schritt vom Kloster entfernt, lag der Leichnam des Senators Romualdo Reda, ganz klein, auf dem Rücken ausgestreckt, ohne jede Spur einer Gewaltanwendung, vielmehr so, als hätte ihn jemand für den ewigen Schlaf zurechtgerückt, die Beine nebeneinander, die Arme fein säuberlich zu beiden Seiten des winzigen Körpers ausgerichtet.

Alle blieben erstarrt stehen und sahen ihn an.

Von der Höhe der Kronen dieser Roßkastanien hing ein ganz, ganz dünner Spinnenfaden herunter, der sich an der Nasenspitze des kleinen Senators festgesetzt hatte.

Von diesem Faden war kein Ende zu sehen.

Und von der Nase des kleinen Senators kletterte ein fast unsichtbares Spinnlein, als wäre es aus den Haarbüschelchen der Nasenlöcher herausgekrochen, immer höher hinauf, diesen Faden entlang, der sich im Himmel zu verlieren schien.


* – Erstdruck in der Zeitschrift Marzocco, März 1907. Die wichtigsten Varianten werden in den Fußnoten angeführt.

[1]– An dieser Stelle hat der Autor für die Druckfassung einen längeren Abschnitt aus der Urfassung der Novelle (1907) gestrichen, der die Diskussion der beiden Professoren näher illustriert, und den wir dem modernen Leser nicht vorenthalten wollen:

“Sie haben mir die Notwendigkeit bewiesen”, schrie Professor Vernoni mit leuchtenden Augen, das Gesicht von dumpfer Wut erstickt, “die Notwendigkeit, mich den Bedingungen der Existenz anzupassen, und daß ich in dieser Anpassung das Leitprinzip des Lebens suchen und in diesem Weg der Vervollkommnung das Ideal des Lebens erblicken soll. Na gut! Na gut! Und weiter?”

Der Senator antwortete ihm mit niedergeschlagenen Augen und mit dem üblichen kühlen Lächeln auf den Lippen, mit den Fingern auf die Armlehnen des Liegestuhls trommelnd: “Genügt Ihnen das nicht?”

“Nein! Es tut mir unendlich leid, hochverehrter Herr Professor, aber es genügt mir nicht; es kann mir gar nicht genügen. Die Anpassung… Was soll das heißen? Und wenn ich mich nicht anpassen will oder kann?”

“Sehr einfach”, antwortete ihm der Senator wiederum ganz gelassen. “Das heißt dann, daß Sie, lieber Vernoni, kein Leitprinzip haben und Gefahr laufen, in einem Irrenhaus oder im Gefängnis zu enden.”

Alle brachen angesichts der treffenden Antwort in Lachen aus, während Vernoni mit weit aufgerissenen Augen in die Höhe fuhr und sich mit beiden Händen auf die Brust schlug: “Ich?”

“Ja freilich”, bestätigte der Senator, “je nach der Art Ihrer Rebellion.”

“Aber verzeihen Sie, verzeihen Sie, verzeihen Sie…”, brach es da aus Herrn Professor Dionisio Vernoni heraus, der vor Wut verkrümmt mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. “Das, Herr Professor, scheint mir doch die Frage allzu leicht zu nehmen.”

“Und warum?”

“Weil ich Ihnen nie die Uhrkette stehlen würde, nicht einmal, wenn ich vor Hunger halbtot wäre.”

“Aaaach”, riefen da die Zuhörer aus, wie von einem vulgären Mißton gekränkt.

Aber der Senator Romualdo Reda betrachtete seine Uhrkette über dem Bauch und fragte ungerührt: “Was hat meine Uhrkette damit zu tun?”

“Natürlich hat sie das”, kreischte Vernoni. “Sie sagen, es wäre notwendig, sich den Bedingungen der Existenz anzupassen. Und wenn ich nun halbtot vor Hunger wäre? Na, das sind schöne Existenzbedingungen, verzeihen Sie! Und würde mich ein Richter verurteilen, wenn ich Ihnen dann die Uhrkette stehlen würde?”

“Ich glaube schon, lieber Vernoni.”

“Hm”, sagte Scamozzi dazwischen.

“Versuchen Sie’s doch mal…”, regte Borisi an.

Professor Dionisio Vernoni sprang erneut auf: “Ach ja? Aber ich würde ihm sagen: ‘Lieber Herr Richter, wie stellen Sie es an, in der Anpassung das Leitprinzip Ihres Lebens zu finden? Der Staat gibt Ihnen eine lächerliche Vergütung; die Bedingungen Ihres Lebens sind ziemlich elend. Wie passen Sie sich an, Herr Richter? Gehorchen Sie? Machen Sie sich gleich? Ich verstehe! Sie verkaufen die Gerechtigkeit, so wie ich eine Uhrkette stehle!’ Nein, nein, Herr Professor, da braucht’s was ganz anderes, glauben Sie mir!”

Die alte Frau Gilli und Miss Green, mitgerissen von dem begeisterten Feuer von Vernonis Rede, nickten unwillkürlich zustimmend mit dem Kopf. Daraufhin antwortete der Senator mit einem vor Ärger säuerlichen Stimmchen: “Aber natürlich braucht’s da was anderes, ganz sicher braucht’s was anderes! Es gilt die Existenzbedingungen zu verbessern, so weit das geht, zum Teufel! In dem Weg der Vervollkommnung liegt das Ideal des Lebens…”

“Und das ist alles?” fragte Vernoni wiederum.

“Was wollen Sie denn noch, heiliger Gott!” rief der Senator aus und zeigte deutlich, daß ihm allmählich die Geduld ausging.

[2]– (siehe Anm.1):

“Einen Grund muß es doch dafür geben! Sicherlich nicht, damit er Astronomie studieren kann… Das wäre ja lächerlich!”

“Und weshalb?” fragte lächelnd, als wäre er betäubt von so viel Tollheiten, der Senator.

“Nicht um der Astronomie willen, jedenfalls!” gab Vernoni, immer erhitzter und bebender, rasch zurück. “Denn ohne die Astronomie könnte der Mensch sehr gut leben, wie er so viele Jahrhunderte hindurch gelebt hat, als er die Sterne für Lämpchen hielt, entschuldigen Sie. Kaum aber war das Teleskop erfunden…”

“Was sah er da?” unterbrach ihn der Senator, ein Ärmchen in die Luft reckend.

Und da brach Vernoni verärgert aus: “Seine Kleinheit, nicht wahr? Verfluchtes Teleskop! Glauben Sie mir, ich würde sie am liebsten alle kurz und klein hauen! Ich würde am liebsten alle astronomischen Observatorien von der Erde hinwegfegen! Das Teleskop, jawohl, das Teleskop ist unser Ruin. Es hat die Menschheit ruiniert – jawohl – das Teleskop! Denn während das Auge von unten hineinblickt, durch die kleine Linse, und das groß sieht, was die Natur ihm vorsorglich klein erscheinen lassen wollte, was tut da die Seele? Sie springt hinauf, um von oben hineinzublicken, die Seele, durch die große Linse; und was wird dann aus dem Teleskop? Ein schreckliches Instrument, ein großartiges Mikroskop, das die Erde und den Menschen und all unseren Ruhm und unsere Größe zugrunde richtet. Klein? Aber verzeihen Sie, Herr Professor, meinen Sie das im Ernst? Aber wenn der Mensch seine unendliche Kleinheit verstehen und sich einen Begriff davon machen kann, dann bedeutet das, daß er auch die unendliche Größe des Universums verstehen und sich einen Begriff von ihr machen kann. Und wie könnte man dann den Menschen noch klein nennen? Sie scherzen! Klein? Aber in mir muß doch notwendigerweise, verstehen Sie?, notwendigerweise etwas von dieser Unendlichkeit sein, sonst könnte ich sie nicht begreifen, wie sie dieser Baum da nicht begreift, zum Donnerwetter, oder mein Hut… Irgend etwas, das, wenn ich die Augen auf den Himmel hefte, hochverehrter Herr Professor, sich auftut und wie nichts zu einer Gegend im All wird, in der Welten rotieren, Welten sage ich, deren beeindruckende Größe ich fühle und verstehe. Und da wollen sie, entschuldigen Sie, daß ich die Augen, die mir die Natur nun einmal so scharf gemacht hat und so begierig, einen Grund zu schauen, zu entdecken, einen Grund, der mich beruhigt und betäubt, daß ich diese Augen verschließe und mich auf das Studium der Kieselsteine beschränke, der Fischlein, der Mücken?… Ja, ja, Wissenschaft, auch das ist Wissenschaft, ich leugne es nicht! Aber wie wollen Sie, daß ich mich damit zufriedengebe, Herr Professor?”

Alle schwiegen voll staunender Bewunderung für den Schwung dieses begeisterten Höhenflugs. Wer hätte je gedacht, daß bei diesem Mann ein Paar so leichter und beschwingter Flügel zu finden wären, wo er doch so dick und plump war, daß man den Eindruck hatte, er hielte sich wie ein ungeschlachter Bär nur mit Mühe auf den beiden Hinterbeinen?

[3]– Diese Formulierung erinnert – ähnlich wie zuvor schon die Beschreibung der geheimnisvollen, “paradiesischen” Musik – an das “Arsenal der Erscheinungen” aus der Villa “La Scalogna” in den Riesen vom Berge (vgl. Bd.3 unserer Ausgabe) und an das Plädoyer des “Zauberers” Cotrone im 2.Akt desselben Stücks – ein Beweis, daß die widersprüchliche Faszination des Okkulten, die Pirandello bei Abfassung der Novelle (1907, also in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu Mattia Pascal (Bd. 10?), in dem dieser Geisterglaube lächerlich gemacht wird) offenbar verspürte, ihn sein Leben hindurch begleitet hat und, ins Phantastisch-Kreative umgedeutet, Ausgangspunkt eines seiner schönsten Entwürfe für eine “post-materialistische” Kunst gewesen ist.

© Michael Rössner.

In Italiano – Dal naso al cielo (1907)

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