Der großen Verblichenen – 1909

In Italiano – L’illustre estinto (1909)
En français – L’illustre disparu

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Der großen Verblichenen
Claude Monet (1840-1923), Ankunft des Zuges am Bahnhof Saint-Lazare, 1877. Immagine dal Web

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift La lettura vom November 1909. Keine wesentlichen Varianten bekannt.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Der großen Verblichenen

I.

Im Bett aufgesetzt, damit das Asthma ihn nicht ersticke, kraftlos hingesunken auf die aufgetürmten Kissen blickte der Herr Abgeordnete Costanzo Ramberti durch die halbgeschlossenen, angeschwollenen Lider auf den Sonnenstrahl, der zum Fenster hereindrang, sich auf seinen Beinen ausbreitete und dort den Flaum eines grauen Wollschals mit schwarzen Karos vergoldete.

Er fühlte sich sterben; er wußte, daß es für ihn keine Rettung mehr gab, er hatte sich bereits ganz in sich zurückgezogen, verbot sich selbst, den Blick weiter als bis zu den Enden des Bettes durch das Zimmer schweifen zu lassen; nicht einmal so sehr deshalb, weil er sich ganz auf den Gedanken des unmittelbar bevorstehenden Endes konzentrieren wollte, als vielmehr aus Furcht, wenn er den Blick auch nur ein bißchen weiter schweifen ließe, könnte ihn der Anblick der Gegenstände ringsumher ihn mit einem gewissen Bedauern zu den Beziehungen zurückrufen, die ihn noch mit dem Leben verbinden mochten, und die der Tod binnen kurzer Zeit endgültig abschneiden würde.

Solcherart in sich versammelt, klein geworden in diesen übermäßig engen Grenzen, fühlte er sich sicherer, geschützter, beinahe geborgen. Und wenn er so seine ganze Konzentration auf die Betrachtung der nichtigsten Dinge aufwendete, der feinen, zu Löckchen gekrümmten und von der Sonne vergoldeten Wollfäden dieses Schals, dann genoß er solcherart die Länge der Zeit, all seiner Zeit, die nur noch Stunden betragen mochte, oder auch noch einen oder den anderen Tag; zwei oder drei; vielleicht auch – allerhöchstens – noch eine Woche. Aber wenn eine Minute unter diesen Winzigkeiten so langsam verstrich, hm, dann hätte er ja noch Zeit, des ganzen müde zu werden – jawohl, geradezu müde zu werden – wenn es eine Woche dauerte. Auf diese Weise ging eine Woche ja nie zu Ende!

Die Müdigkeit jedoch, die er bereits zu spüren begann, die hatte nichts mit diesem Dehnen der Zeit zwischen den Härchen seines Schals bis hin zur Ewigkeit zu tun: sie war das Resultat seiner Anstrengungen, sich am Denken zu hindern.

Ja, woran wollte er denn noch denken? An seinen Tod? Eher schon… ja, das war’s: Er hätte sich all das ausmalen können, was danach passieren würde. Ja, auch das wäre ein Weg gewesen, zu verhindern, daß – wenigstens für seine verwirrten Gedanken, denen die Tröstung der Religion ermangelte – das Leben mit einem Mal – und binnen kurzer Frist – sich wie in Nichts auflöste; eine Methode, noch ein wenig hierzubleiben, für kurze Zeit, vor den Augen der anderen wenigstens, wenn schon nicht vor den eigenen.

Und der Abgeordnete Costanzo Ramberti war mutig genug, sich selbst tot vor sich zu sehen, so wie die anderen ihn sehen würden; so wie er so viele andere gesehen hatte: tot und steif, hier auf diesem Bett; die Füße zusammengekrampft, in den zu engen Lackschuhen; wachsbleich im Gesicht und eiskalt, die Hände fast zu Stein geworden; würdevoll und… aber ja, auch elegant, in seinem schwarzen Anzug, unter den vielen Blumen, die rund um seinen Körper und auf dem Kissen aufgelegt waren.

Der Frack mußte dort im Koffer liegen, zusammen mit der neuen Uniform, dem Degen und dem Minister-Zweispitz.

Einstweilen zog er die Füße an und betrachtete sie, um einmal die Probe zu machen. Er fühlte etwas wie ein Kitzeln am Bauch; er hob eine Hand und strich sich die Haare auf dem Kopf glatt, dann zupfte er an seinem rötlichen, über dem Kinn geteilten Bart. Er dachte, wenn er einmal tot wäre, würde ihm sein Privatsekretär diesen Bart kämmen und die wenigen Haare auf dem Kopf frisieren, der Cavaliere Spigula-Nonnis, der ihn seit so vielen Tagen und Nächten betreute, der arme Kerl, mit ergebener Zuneigung, ohne ihn auch nur einen Augenblick allein zu lassen, ganz verzweifelt, am Fußende des Bettes stehend, weil er ihm in keiner Weise seine Leiden erleichtern konnte.

Aber er half ihm doch auch, der Cavaliere Spigula-Nonnis, ohne es zu wissen: er half ihm, in Würde zu sterben, wie ein Philosoph. Wäre er allein gewesen, hätte er vielleicht begonnen zu toben, zu weinen, in verzweifelter Wut zu schreien; mit dem Cavaliere Spigula-Nonnis am Fußende seines Bettes, der ihn “Exzellenz” titulierte, ließ er sich keinen lauten Atemzug entschlüpfen: er starrte aufmerksam, beinahe verwundert, vor sich hin, ein leises Lächeln auf den Lippen.

Ja, die Gegenwart dieses armseligen, spindeldürren, kurz­sichtigen Menschen hielt ihn noch an einem nun schon sehr dünn gewordenen Faden auf der Bühne, in seiner Rolle, bis zum letzten Atemzug. Innerlich verzweifelte er vor Angst und Schreck angesichts dieses gar so dünnen Fadens, denn er konnte gar nicht anders als die Nichtigkeit und Vergeblich­keit dieser Anstrengung zu empfinden, mit der sich seine ganze Seele daran klammerte, in alledem sehr ähnlich der Verzweiflung, die er so oft mit grausamer Neugier bei irgendeinem Tierchen im Todeskampf beobachtet hatte, bei einem ins Wasser gefallenen Insekt etwa, das sich an ein schwimmendes Flöckchen oder Härchen zu klammern versuchte.

All diese Dinge, mit denen er die Leere ausgefüllt hatte, in der ihm nun das Leben vor den Augen schwirrte, waren in der Person des Cavaliere Spigula-Nonnis verkörpert: seine Autorität, sein Ansehen, eitle Dinge, die er zu verlieren begann, die keinen Wert mehr besaßen, die aber aus der Leere, die ihn binnen kurzem verschlucken würde, hervor­stachen wie Traumlarven, Winzigkeiten des Lebens, die noch für kurze Zeit nach seinem Tod, das konnte er voraussehen, um ihn herumtanzen würden, um sein Bett, um seine Bahre.

Dieser Cavaliere Spigula-Nonnis würde ihn also waschen, ankleiden und kämmen, liebevoll, aber doch mit einem gewissen Anflug von Ekel. Ekel empfand übrigens auch er bei dem Gedanken, daß sein Fleisch, sein nackter Körper von den großen, knochigen Händen dieses Mannes berührt und von ihm angeschaut werden sollte. Aber andere Menschen hatte er nicht: keinen einzigen Verwandten, weder nah noch entfernt. Er starb allein, wie er stets gelebt hatte; allein, in dieser hübschen Villa in Castel Gandolfo, die er in der Hoffnung gemietet hatte, nach zwei bis drei Monaten der Erholung würde er wieder ganz zu Kräften kommen. Er war doch kaum fünfundvierzig Jahre alt!

Aber er hatte sich eben selbst umgebracht, wie ein Vieh, mit eigenen Händen; er selbst hatte sich den Lebens­faden durchgeschnitten, vor lauter Arbeitswut und starrsinnigem, erbittertem Kampf. Und als es ihm endlich gelungen war, den Sieg zu fassen zu kriegen, da trug er den Tod schon im Leibe, den Tod, der sich schon seit einer ganzen Weile in seinen Körper eingeschlichen hatte. Als er zum König gegangen war, um den Eid zu leisten; als er, nach außen hin in gefaßter Betroffenheit, innerlich aber jauchzend, die Glückwünsche seiner Kollegen und der Freunde entgegengenommen hatte, trug er den Tod im Leib und wußte es nicht. Vor zwei Monaten, eines Abends, hatte dieser unversehens einmal nach seinem Herzen gegriffen und zugedrückt, ihn röchelnd mit dem Kopf auf seinem Ministerschreibtisch im Ministerium für öffentliche Arbeiten zurücklassend.

Alle Zeitungen der Opposition, die sich so böse über seine Ernennung ausgelassen hatten und sie als unver­schämte Günstlingswirtschaft des Ministerpräsidenten abgetan hatten, würden nun bei dem Bericht über seinen viel zu frühen Tod vielleicht seine Verdienste berücksichtigen, seine langen und geduldig vorangetriebenen Studien, seine ständige, einzige, alles andere absorbierende Leidenschaft für das Gemeinwesen, die Begeisterung, die er stets bei der Erfüllung seiner Pflichten als Abgeordneter und später für kurze Zeit als Minister an den Tag gelegt hatte. Tja! Derartige Trostworte kann man ruhig einem spenden, der uns verlassen hat, und das umso mehr, als die Freundschaft, die berühmte Protektion des Ministerpräsidenten nicht so weit gegangen waren, daß er ihm auch noch die Gunst gewährt hätte, wenigstens als Minister zu sterben. Sofort nach diesem Schlaganfall hatte man ihm in schön verklausulierter Form zu verstehen gegeben, daß es wohl angebracht wäre – nun, natürlich nur aus Rücksicht auf seine Gesundheit, nichts weiter – von seinem Amt zurückzutreten.

So würde also nicht einmal für die der Regierung nahe­stehenden Blätter sein Tod eine “regelrechte Staatstrauer” bedeuten. Aber jedenfalls würde er für alle ein “großer Verblichener” sein, das wohl, ohne jeden Zweifel. Und alle würden sein “viel zu frühes Heimgehen” bedauern, durch das er “aus der vollen Blüte eines Lebens gerissen wurde, in dem er dem Vaterland sicher noch viele große und wertvolle Dienste hätte leisten können”, usw. usf.

Vielleicht würden, angesichts der örtlichen Nähe und der kurzen Zeit, die seit seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt verstrichen war, Seine Exzellenz der Minister­präsident und seine ehemaligen Ministerkollegen sowie die Staatssekretäre und viele befreundete Abgeordnete aus Rom kommen und ihn tot da liegen sehen, in diesem Zimmer, das der Bürgermeister des Ortes, um sich Anerkennung zu sichern, gemeinsam mit dem Cavaliere Spigula-Nonnis in eine Aufbahrungshalle verwandeln würde, mit Lorbeerbaumkistchen und anderen Pflanzen, Blumen und Kerzenleuchtern. Alle würden mit entblößtem Haupt eintreten, an der Spitze der Ministerpräsident: sie würden ihn eine Zeitlang betrachten, stumm, beklommen, bleich, mit dieser vom instinktiven Schauer gebremsten Neugier, die er selbst so oft vor so vielen anderen Toten empfunden hatte. Ein feierlicher und berührender Augenblick.

“Armer Ramberti!”

Und dann würden sich alle nach drüben zurückziehen, um zu warten, bis man ihn in dem bereitstehenden Sarg einge­schlossen hätte.

Valdana, seine Geburtsstadt, Valdana, das ihn seit fünfzehn Jahren immer wieder zum Abgeordneten des Wahlkreises bestimmte, Valdana, die Stadt, für die er so viel getan hatte, würde sicherlich seine sterblichen Überreste für sich beanspruchen. Und der Bürgermeister von Valdana würde sich mit zwei oder drei Stadträten einfinden, um dem Leichnam das Geleit zu geben.

Die Seele… tja, die Seele wäre da wohl schon eine geraume Zeit fort, und wer weiß wo angekommen…

Der Abgeordnete Costanzo Ramberti kniff die Augen zusammen. Er versuchte sich an eine alte Definition der Seele zu erinnern, die ihm sehr gefallen hatte, als er noch Student der Philosophie an der Universität war: “Die Seele ist jene Essenz, die in uns Bewußtsein von sich selbst und der außer uns befindlichen Dinge gewinnt”. Jawohl. So war es… Es war die Definition eines deutschen Philosophen.

“Was für eine Essenz?”, dachte er nun. “Was soll das heißen? Dieses gewisse Ding, “das ist”, unleugbar ist, und um dessentwillen ich, solange ich am Leben bin, mich von meinem Ich nach dem Tod unterscheide. Das ist klar! Aber ist diese Essenz in mir für sich selbst da oder nur insoferne es mich gibt? Zwei ganz verschiedene Fälle. Ist sie für sich da, und wird sie nur in mir ihrer selbst bewußt, wird sie dann außerhalb meines Ich kein Bewußtsein mehr haben? Und was wird sie dann also sein? Etwas, was ich nicht bin, was sie selbst nicht ist, solange sie in mir steckt. Einmal hinausgetreten, wird sie sein, was sie sein wird… wenn sie noch sein wird! Denn es gibt ja noch die andere Möglichkeit: nämlich, daß sie nur ist, insoferne auch ich bin; so daß also, wenn ich einmal nicht mehr da bin…”

“Cavaliere, einen Schluck Wasser, bitte…”

Der Cavaliere Spigula-Nonnis sprang in die Höhe und richtete sich zu seiner ganzen Länge auf. Er schüttelte die Müdigkeit aus den Gliedern, reichte ihm das Glas Wasser und fragte besorgt: “Exzellenz, wie fühlen Sie sich?”

Der Abgeordnete Costanzo Ramberti trank zwei Schluck: dann reichte er ihm das Glas zurück, lächelte seinen Sekretär blaß an, schloß wieder die Augen und seufzte: “Soso…”

Wo war er stehen geblieben? Er mußte also nach Valdana fahren. Die Leiche… Ja, es war besser, sich nur an die Leiche zu halten. Nun gut: sie packten sie am Kopf und an den Füßen an. In dem Sarg war bereits ein mit Sublimatwasser getränktes Leintuch aufgelegt, in das würden sie die Leiche einhüllen. Und dann der Spengler… Wie hieß bloß dieses lärmende Gerät mit der bläulichen Feuerzunge? Da war die Zinkplatte, die auf den Sarg geschweißt werden mußte; da der Deckel, den es anzuschrauben galt…

An diesem Punkt sah der Abgeordnete Costanzo Ramberti sich selbst im Sarg nicht mehr. Er blieb draußen und sah den Sarg, so wie andere ihn sehen würden: ein schöner Sarg aus Kastanienholz, in der geschwungenen Form einer Urne, glattpoliert, mit vergoldeten Beschlägen. Das Begräbnis und der Transport würden sicherlich auf Staatskosten gehen.

Und da, nun wurde der Sarg auch schon hochgehoben: er durchquerte die Zimmer, glitt die Treppen der Villa hinunter, bewegte sich durch den Garten, gefolgt von allen Kollegen, wiederum mit entblößtem Kopf und mit dem Ministerpräsidenten an der Spitze; er wurde in den Wagen der Gemeindeverwaltung geschoben, inmitten der ängstlichen und ehrfürchtigen Neugier der gesamten Bevölkerung, die zu diesem seltenen Schauspiel zusammengeströmt war.

Und auch hier ließ der Abgeordnete Ramberti den Sarg in den Wagen schieben und blieb draußen, um dem Wagen zuzu­sehen, der sich in der Begleitung so vieler Leuten langsam und feier­lich vom Ort zur Eisenbahnstation hinunterbewegte. Ein Waggon wartete schon, einer von denen mit der Aufschrift Pferde 8, Menschen 40, mit dem Aufbau aus vernagelten Brettern, in dem sollte der Sarg eingeschlossen werden. Der Abgeordnete Costanzo Ramberti sah, wie sein Sarg aus dem Wagen geholt wurde und folgte ihm auf den schmucklosen, staubigen Waggon, der sicherlich in Rom noch herausgeputzt und mit allen Kränzen geschmückt werden würde, die der König und die Regierung, die Gemeinde Valdana und alle Freunde schicken würden. Abfahrt!

Und der Abgeordnete Costanzo Ramberti folgte dem Zug, dessen letzter Waggon seinen Sarg transportierte, über eine sehr, sehr weite Strecke, bis zur Station Valdana; auch hier war der Bahnhof mit Schaulustigen überfüllt. Da waren sie ja, einer nach dem anderen, seine treuesten und engsten Freunde, die Provinzräte und Stadträte, einige ein wenig plump wirkend in dem ungewohnten schwarzen Anzug oder mit dem Zylinder auf dem Kopf. Ach, da war ja Robertelli!… ja, natürlich!… der gute Robertelli… er weinte, er drängte sich durch die Leute hindurch…

“Wo ist er? Wo ist er?”

Na, wo mochte er wohl sein? Da drinnen, im Sarg, lieber Robertelli. Na, na, immer nur einer auf einmal…

Aber der Abgeordnete Costanzo Ramberti sah diese Szene, als läge tatsächlich nicht er in diesem Sarg, der doch ziemlich schwer war, jawohl, er war schwer, und das zeigten die Magistratsbeamten deutlich, die da in Livree und weißen Handschuhen alle Mühe hatten, ihn auf die Schultern zu heben.

Er sah… ach, da war ja Tonni, der immer, der Ärmste, nur für eine abgezählte Frist Ausgang hatte, weil ihm seine wütend eifersüchtige Frau die Minuten vorrechnete – da stand er unruhig, ächzte, holte jeden Augenblick die Uhr aus der Tasche, verwünschte die einstündige Verspätung, mit der der Zug eingetroffen war, und die ihm die Frau sicherlich nicht glauben würde. Na, laß es gut sein, lieber Tonni, laß es gut sein. Deine Frau wird dir eine Szene machen; aber nachher wirst du dich wieder versöhnen. Du bleibst ja am Leben. Ins Jenseits dagegen geht man nicht zweimal. Hättest du lieber für deinen Freund, der dir doch so viel Gutes getan hat, ein Begräbnis in aller Stille? Laß es ruhig mit Pomp und Feier­lichkeit sein… Siehst du? Da ist auch der Herr Präfekt… Platz da, Platz da! Oh, sogar der Oberst ist gekommen… Ja natürlich! Er hatte ja auch Anrecht auf eine militärische Begleitung. Und auch die ganzen Schulen waren vertreten, mit den Fahnen all der verschiedenen Institute; und wie viele Fahnen noch von allen möglichen Vereinen! Ja, denn wenngleich er sich tatsächlich ganz und gar den höchsten Problemen der Staatspolitik, den brennendsten sozioökono­mischen Problemen verschrieben hatte, so hatte er doch nie die besonderen Sorgen seines Wahlkreises vergessen, der ihm für die vielen erwiesenen Wohltaten viel Dankbarkeit schuldete. Und vielleicht würde Valdana ihm diesen Dank mit einer marmornen Erinnerung am Rathaus abstatten, oder indem man eine Straße oder einen Platz nach ihm benannte; und einstweilen eben mit diesem festlichen Leichenzug… in Gedanken sah er die Hauptstraße der überall auf Halbmast beflaggten Stadt vor sich:

VIA COSTANZO RAMBERTI.

Und die Fenster, schwarz von all den Menschen, die auf den von acht prächtig aufgeputzten Pferden gezogenen, mit Kränzen bedeckten Wagen warteten. Und viele wiesen unterwegs mit dem Finger auf den Kranz des Königs, der der schönste von allen war. Der Friedhof lag dort unten, hinter dem Hügel, düster und einsam. Die Pferde gingen in langsamem Schritt, als wollten sie ihm Zeit geben, diese letzten Ehren zu genießen, die man ihm erwies und die sein Leben noch um ein kleines Stückchen über das Ende hinaus verlängerten…


II.

All das malte sich der Abgeordnete Costanzo Ramberti am Vorabend seines Todes aus. Ein wenig durch seine eigene Schuld, ein wenig durch die Schuld anderer entsprach dann die Wirklichkeit nicht im geringsten seiner Vorstellung.

Er starb bereits in der Nacht, man weiß nicht, ob es im Schlaf geschah; sicher ist nur, daß es geschah, ohne daß er damit den Cavaliere Spigula-Nonnis störte, der, von Müdigkeit überwältigt, auf dem Lehnstuhl am Fußende des Bettes in einen tiefen Schlummer gefallen war. Da wäre weiter nichts dabei gewesen, hätte sich der Cavaliere Spigula-Nonnis, als er gegen vier Uhr morgens plötzlich aus dem Schlaf aufschreckte und ihn bereits kalt und steif vorfand, nicht so außergewöhnlich erschüttern lassen, erst von einem seltsamen Brummen im Zimmer, dann von dem Vollmond, der in seinem allmählichen Untergehen förmlich am Himmel stehenzubleiben schien, um diesen Toten da auf dem Bett zu betrachten, durch die Fensterscheiben, vor denen aus Nachlässigkeit die Läden offengeblieben waren. Das Brummen stammte von einer dicken Fliege, die er mit seinem plötzlichen Auffahren aus dem Schlaf geweckt hatte.

Als beim Morgengrauen Bürgermeister Agostino Migneco herbeilief, den der Diener in höchster Eile geweckt hatte, stammelte der Cavaliere Spigula-Nonnis: “Da war der Mond… da war der Mond…”

Etwas anderes brachte er nicht heraus.

“Der Mond? Was für ein Mond?”

“Ein Mond war das… ein Mond!”

“Na schön, der Mond war da… aber mein Bester, nun heißt es sofort ein Blitztelegramm an seine Exzellenz den Parlamentspräsidenten schicken; ein zweites an seine Exzellenz den Ministerpräsidenten; und an den Bürgermeister von… für welchen Wahlkreis war Seine Exzellenz eigentlich Abgeordneter?”

“Valdana… (Was für ein Mond!)”

“Lassen Sie doch endlich den Mond zufrieden! Also: an den Bürgermeister von Valdana. Also drei, lauter Blitztelegramme, damit die traurige Nachricht an die Bürger weitergegeben werden kann, verstehen Sie? An die Wähler… Der wird alle Hände zu tun haben, dieser Bürgermeister! Beeilen Sie sich, um Himmels willen! Man muß das Telegraphenamt aufsperren! Lassen Sie sich von einem Wachbeamten begleiten, sagen Sie, es sei in meinem Namen. Und dann sofort wieder hierher! Man muß ihn so schnell wie möglich anziehen. Sehen Sie? Die Leiche ist schon ganz starr.

Es war geradezu ein Wunder, daß Cavaliere Spigula-Nonnis nicht in all diese Telegramme schrieb, was für ein Mond dagewesen war.

Eigentlich hätte Bürgermeister Migneco, um sich Ehre einzulegen, ja nur zu gerne eine Aufbahrung vorbereiten lassen, vor der alle mit offenem Mund stehen sollten, mit einem Katafalk und allem, was dazu gehört. Aber… in so kleinen Nestern ging das eben nicht; nichts bekam man; sogar geschickte Arbeiter waren nicht zu finden. Er war in die Kirche um ein Parament gelaufen: da gab es nur solche in rotem Damast mit goldenem Besatz. Wären sie doch schwarz gewesen. Schließlich packte er vier goldene Leuchter zusammen, uraltes Zeug aus dem Mittelalter… Oja, Blumen schon, Blumen und Topfpflanzen: Blumen auf dem Boden, Blumen auf dem Bett: das ganze Zimmer mußte voll werden damit.

Unterdessen fand sich der Frack nicht im Koffer, und der Cavaliere Spigula-Nonnis war gezwungen, nach Rom zu eilen, in die kleine Wohnung in der via Ludovisi; aber auch dort fand er ihn nicht; er war doch im Koffer, nur eben ganz unten. Dieser arme Mensch hatte ja wirklich total den Kopf verloren. Tja, er war ihm sehr ergeben… Tränen wie ein Springbrunnen. Aber den Frack mußte man am Rückenteil zerschneiden (ewig schade, er war noch ganz neu), denn die Arme des Leichnams ließen sich nicht mehr bewegen. Und kaum war er endlich angezogen, Herrschaften, da hieß es auch schon wieder ausziehen und danach wieder von vorne anziehen, denn die Gemeinde Valdana (das schon, das verlief so, wie Costanzo Ramberti es sich ausgemalt hatte) sandte ein Blitztelegramm, in dem angekündigt wurde, die tieftrauernde Bürgerschaft verlange einstimmig die irdische Hülle ihres großen Vertreters, um sie mit einem feierlichen Begräbnis zu ehren; ein Denkmal… auch ein Denkmal! Ja, große Dinge waren geplant, und – jawohl, sogar ein Platz, der Postplatz, sollte auf seinen Namen umbenannt werden – und ein Arzt kam aus Rom, um der Leiche ein paar Injektionen zu geben, Formalin, wie er sagte; Bürgermeister Migneco, bei allem schuldigen Respekt, hätte es lieber “Deformalin” nennen wollen, denn nach diesen Injektionen… ach, das wachs­bleiche Gesicht, die Eleganz, mit der sich der Abgeordnete Costanzo Ramberti im Tod dargestellt hatte! So ein grobes Gesicht formten sie ihm jetzt, ohne Nase, ohne Wangen, ohne Hals, ohne alles: eine Talgkugel, das war’s. So schlimm sah er aus, daß man sogar daran dachte, sein Gesicht unter einem Tuch zu verstecken.

Viel mehr Abgeordnetenkollegen, als Costanzo Ramberti je gemeint hätte, zu seinen Freunden zählen zu können, strömten am nächsten Morgen nach Castel Gandolfo, zusammen mit dem Parlamentspräsidenten, dem Ministerpräsidenten, den Ministern und den Staatssekretären. Sogar einige Senatoren waren erschienen, aus dem Kreise der weniger hochbetagten, und natürlich ein Rattenschwanz von Journalisten und zwei Photographen dazu.

Es war ein herrlicher Tag.

Für Leute, die von so vielen schweren sozialen Problemen bedrückt, von so vielen kleinlichen Querelen des Alltags bekümmert waren, mußte es wohl tatsächlich wie ein Fest wirken, dieses Eintauchen ins Blaue, in die eben ergrünende Campagna, in die Welt der sonnenbeschienenen römischen Kastelle, des Sees und der Wälder in dieser noch ein bißchen kühlen Luft, in der doch schon ein Hauch des Frühlings zu spüren war. Das sagten sie freilich nicht; im Gegenteil, sie stellten ihre Betroffenheit zur Schau, und die war vielleicht sogar echt; aber wohl wegen der geheimen Gewissensbisse darüber, daß sie es trotzdem in kleinlichen, sinnlosen Kämpfen aufgebraucht hatten und weiter aufbrauchten, ihr so kurzes, so wenig sicheres Erdendasein, das ihnen doch in diesem Augen­blick so teuer war, dort, in dieser frischen, luftigen, bezaubernden Erscheinung.

Ein gewisser Trost war ihnen der Gedanke, daß sie es noch genießen konnten, wenn auch nur flüchtig, ihr Kollege dort aber nicht mehr.

Und solcherart getröstet, begannen sie tatsächlich nach und nach während der kurzen Fahrt sich fröhlich zu unterhalten, zu lachen, dankbar gegenüber diesen fünf oder sechs ehrlichsten unter ihnen, die als erste die Atmosphäre der Niedergeschlagenheit mit der einen oder anderen launigen Bemerkung durchbrochen hatten und nun weiterhin den Hanswurst spielten.

Dennoch trat von Zeit zu Zeit eine Pause ein in den fröhlichen Unterhaltungen und dem Lachen der Reisenden, so als tauchte in den Fenstern der aneinanderhängenden Wagen plötzlich der Kopf Costanzo Rambertis mahnend auf; und alle empfanden dann fast so etwas wie Bestürzung, ein quälendes Unbehagen, allen voran die, die wirklich keinen Grund hatten, dabei zu sein, außer dem Vergnügen, einen Ausflug in großer Gesellschaft zu unternehmen: die bekannten Gegner Rambertis oder die, die ihn heimlich verleumdet hatten. Diese Leute bemerkten, daß ihre Gegenwart einen Verstoß gegen irgend etwas darstellte. Wogegen? Gegen die Erwartung des Toten, die Erwartung eines Menschen, der sich nicht mehr wehren und sie hinauswerfen und beschämen konnte?

Ja, war das nun der Besuch bei einem Toten oder nicht?

Wenn es einer war, na dann! Einen Toten besucht man wirklich nicht so, unter fröhlichem Geplauder und Gelächter.

Alle diese Kollegen, Freunde oder auch nicht, hatten keine Ahnung von der Vorstellung, die sich der arme Ramberti am Vorabend seines Todes von diesem ihren Besuch gemacht hatte, natürlich dem Charakter entsprechend, den dieser hätte haben sollen, ein Trauer-, ein Beileidsbesuch, ein Ausdruck des Bedauerns für ihn. Davon hatten sie keine Ahnung; aber aufgrund der bloßen Tatsache, daß dieser Besuch nun stattfand, konnten sie gar nicht anders, als von Zeit zu Zeit bemerken, daß die Art und Weise, in der er nun stattfand, dem Anlaß nicht angemessen war. Und diejenigen, die keine Freunde Rambertis waren, konnten gar nicht anders als zu bemerken, daß sie hier überflüssig waren und ihre Gegenwart einen Verstoß darstellte.

Kaum waren sie am Bahnhof Castel Gandolfo ausgestiegen, nahmen jedoch alle wieder ihre ursprüngliche, ernste und schmerzerfüllte Haltung an, bekleideten sich mit der Feier­lichkeit des traurigen Augenblicks, mit der Bedeutung, die ihnen die ehrfurchtsvolle Menge zumaß, die sich zu ihrem Empfang versammelt hatte.

Unter der Führung des Bürgermeisters Migneco und seiner Stadträte begaben sich Minister und Abgeordnete zu Fuß und mit glühenden Gesichtern, alle in Schweiß geraten, mit aus den Ärmeln herausschlüpfenden Manschetten und verdrehten Krawatten in einer langen Reihe zur Villa Rambertis, an der Spitze die beiden Präsidenten, zu beiden Seiten und im Gefolge eine riesige Volksmenge.

Diese Ankunft, dieser Einzug in den mit Trauerfahnen geschmückten Ort, diese Prozession waren tatsächlich noch viel größer, als Ramberti sie sich vorgestellt hatte. Nur geschah ausgerechnet im feierlichsten Augenblick, als der Parlamentspräsident, der Ministerpräsident und alle Minister und Staatssekretäre, die Abgeordneten und die Menge der Neugierigen mit entblößtem Haupt den Aufbahrungsraum betraten, etwas, das der Abgeordnete Ramberti sich niemals auszumalen vermocht hätte: etwas Entsetzliches, in der beinahe heiligen Stille dieser Szene: ein plötzliches, unheilvolles, maßloses Grollen im Bauch des Toten, das wie ein Donner klang und alle Umstehenden erstarren ließ. Was war das gewesen?

Digestio post mortem“, seufzte in würdigem Latein einer von ihnen, ein Arzt, kaum, daß er wieder ein bißchen Luft bekam.

Und die anderen starrten fassungslos auf den Leichnam, der sich das Gesicht mit dem Tuch bedeckt zu haben schien, um sich ohne Scham so etwas vor dem höchsten Vertretern der Nation erlauben zu können. Und mit finsteren Gesichtern verließen sie alle den Aufbahrungsraum.

Als der Cavaliere Spigula-Nonnis drei Stunden später im römischen Bahnhof mit unendlicher Betrübnis alle, die nach Castel Gandolfo gekommen waren, davongehen sah, ohne auch nur noch einen letzten Blick, einen letzten Abschiedsblick auf den Wagen zu werfen, in dem Seine Exzellenz, der Abgeordnete Ramberti, eingeschlossen war, da hatte er den Eindruck eines Verrats. So sollte also alles zu Ende sein?

Und er blieb allein zurück, in dem unsicheren, gedrück­ten Licht des sterbenden Tages unter dem riesigen rauch­geschwärzten Glasdach, und verfolgte mit seinen Blicken die Verschubbewegungen des Zuges, der langsam zerlegt wurde. Nach vielen Bewegungen in einem komplizierten Zickzack sah er schließlich den Wagen am Ende eines Gleises im Hinter­grund zum Stehen kommen, neben einem anderen, auf dem bereits ein Schild mit der Aufschrift Leichentransport angebracht war.

Ein alter Bahnhofswärter, halb lahm und asthmatisch, schleppte sich mit dem Leimtopf hinzu und klebte auch auf den Wagen des Abgeordneten Ramberti ein ebensolches Schild. Dann ging er wieder fort. Der Cavaliere Spigula-Nonnis näherte sich, um mit seinen kurzsichtigen Augen die Aufschrift zu entziffern. Und er las darüber: Pferde: 8, Menschen: 40, schüttelte den Kopf und seufzte. Eine ganze Weile lang blieb er noch stehen und betrachtete diese beiden Leichenwaggons neben einander.

Zwei Tote, zwei, die schon gegangen waren, und die doch noch einmal reisen mußten!

Und so würden sie bleiben, allein, in dieser Nacht, unter dem Donnern der ankommenden und abfahrenden Züge. Dort ausgestreckt, unbeweglich, im Dunkel ihrer Kisten, unter dem ständigen Kommen und Gehen eines Bahnhofs. Lebt wohl! Lebt wohl!

Und nun ging auch er, der Cavaliere Spigula-Nonnis. Er ging beklemmt fort. Unterwegs jedoch kaufte er die Abend­blätter und tröstete sich, als er die langen Nekrologe sah, die alle auf der ersten Seite brachten, mit dem Bild des großen Verblichenen in der Mitte der Seite.

Zu Hause angekommen, vertiefte er sich in die Lektüre und war sehr gerührt über den in einer der Zeitungen erscheinenden Hinweis auf die Pflege und den liebevollen Beistand, die selbstlose Ergebenheit, mit der er, der Cavaliere Spigula-Nonnis, in diesen letzten Monaten den Abgeordneten Costanzo Ramberti betreut hatte.

Schade nur, daß in seinem Namen das “Nonnis” nur mit einem “n” geschrieben war.

Aber man verstand trotzdem, daß er gemeint war.

Er las diese Bemerkung wenigstens zwanzigmal von vorne; und als er wieder auf die Straße hinaustrat, um in der gewohnten Pension sein Abendessen einzunehmen, kaufte er zuvor noch bei einem Kiosk weitere zehn Exemplare dieser Zeitung, um sie anderentags nach Novara zu schicken, an seine Verwandten und Freunde, natürlich erst nachdem er das fehlende “n” hinzugefügt und die betreffende Passage mit blauem Farbstift angestrichen hätte.

Große Lobeshymnen, große Lobeshymnen sangen sie alle auf den Abgeordneten Costanzo Ramberti. Das Bedauern war einstimmig und die Verdienste, der unermüdliche Fleiß, die absolute Ehrlichkeit des Verstorbenen wurden ins rechte Licht gerückt. Alles, wie es sich der Abgeordnete Costanzo Ramberti ausgemalt hatte. Von seinem “viel zu frühen Heimgehen” war da die Rede, und von den “vielen großen und wertvollen Diensten, die er dem Vaterland sicher noch hätte leisten können”. Und die Telegramme aus Valdana sprachen von der tiefen Betroffenheit der Bevölkerung bei der Trauernachricht, von den außerordentlichen, unvergeßlichen Ehrungen, die seine Vaterstadt ihrem Großen Sohn bereiten würde, und sie kündigten bereits an, daß der Bürgermeister, eine Abordnung des Stadtrates und andere hervorragende Bürger, ergebene Freunde des großen Verblichenen, bereits nach Rom aufgebrochen waren, um dem Leichnam das Geleit zu geben. Als er gegen Mitternacht durch die Stille der verlassenen, von den Laternen nur spärlich erhellten Straßen nach Hause schritt, dachte der Cavaliere Spigula-Nonnis noch einmal an die beiden Leichenwaggons, die dort am Ende eines Gleises des Bahnhofs wartend standen. Wenn diese beiden Toten einander Gesellschaft hätten leisten können, mit einander Konversation machen, um die Zeit totzuschlagen! Bei diesem Gedanken lächelte Cavaliere Spigula-Nonnis schmerzlich. Wer weiß, wer der andere sein mochte, wo er schließlich enden würde… Diese Nacht stand er dort, ohne die geringste Ahnung von der Ehre zu haben, die ihm widerfuhr, indem er als Nachbarn einen hatte, von dem in diesem Augenblick sämtliche Zeitungen Italiens voll waren, und der tags darauf den triumphalen Empfang einer ganzen Stadt erleben würde, die ihn beweinte.

Konnte der Cavaliere Spigula-Nonnis je auf die Idee kommen, daß der Leichenwagen des Abgeordneten Costanzo Ramberti gegen zwei Uhr morgens von ein paar Eisenbahnern, denen vor Müdigkeit schon die Augen zufielen, an den Zug gehängt werden könnte, der um diese Zeit nach den Abruzzen abfuhr, und daß man so den großen Verblichenen dem trium­phalen Empfang entziehen würde, der feierlichen Ehrung durch seine Vaterstadt?

Aber der Abgeordnete Costanzo Ramberti, selbst ein Politiker, der bereits an der Macht gewesen war und deshalb in die “geheimen Dinge” Einblick gewonnen hatte, der Abgeordnete Costanzo Ramberti, der alle Mängel des Eisenbahnwesens kannte, der hätte eine derartige Fehlleistung sehr wohl voraussehen können. Wenn einmal zwei wartende Leichenwaggons in einem so viel befahrenen Bahnhof nebeneinander wartend standen, dann war nichts leichter, nichts offensichtlicher zu erraten, als daß man den einen an den Bestimmungsort des anderen schicken würde und umgekehrt.

Eingesperrt, eingenagelt in seinem Waggon, konnte er sich nun freilich nicht gegen diese unwürdige Verwechslung zur Wehr setzen, gegen diesen Übergriff, mit dem sechs bestialische Verschubarbeiter ihn in diesem Augenblick der festlichen Trauerkleider beraubten, die sein Valdana in dieser Nacht für ihn anlegte, um ihn tags darauf mit allen Ehren zu empfangen. Und am Ende dieses Zuges, der da, beinahe leer, nach den Abruzzen abfuhr und mit seinen ausgeleierten Bremsen die armen, alten, schmutzigen Waggons, aus denen er zusammengesetzt war, beinahe zerquetschte, mußte er nun die ganze restliche Nacht reisen, langsam, traurig in die Ferne, zu dem Bestimmungsort jenes anderen Toten, eines jungen Seminaristen aus Avezzano mit Namen Feliciangiolo Scanalino.

Natürlich wurde der Leichenwagen dieses anderen am Morgen darauf unter der Aufsicht des Leiters des Bestattungsunternehmens, das sich den Auftrag für das Staatsbegräbnis gesichert hatte, prächtig geschmückt. Schwere Samtdecken mit Silberfransen als Baldachin, und Schleier und Bänder und Palmwedel. Auf dem Sarg, bedeckt mit einer herrlichen Sargdecke, bloß der Kranz des Königs; zu beiden Seiten jener des Minister- und jener des Parla­mentspräsidenten. An die siebzig weitere Kränze wurden in dem folgenden Wagen untergebracht. Und um exakt acht Uhr dreißig brach unter den bewundernden Blicken einer wahren Menschenmenge aus Freunden des Abgeordneten Costanzo Ramberti Feliciangiolo Scanalino zu den feierlichen Ehrungen Valdanas auf.

Als der Zug gegen drei Uhr nachmittags im Bahnhof Valdana eintraf, der von einer ergriffenen Menschenmenge förmlich überquoll, wurde der Bürgermeister, der mit der Abordnung der Gemeinde dem Leichnam das Geleit gegeben hatte, in geheimnisvoller Weise von einem kreidebleichen, am ganzen Leibe zitternden Stationsvorsteher beiseite gerufen und in den Telegraphenraum geführt. Aus dem Bahnhof Rom war ein Telegramm eingetroffen, daß unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Verwechslung der Leichenwaggons berichtete.

Der Bürgermeister von Valdana war wie vom Donner gerührt.

Was sollte man nun tun, wo draußen alle Leute warteten und die ganze Stadt geschmückt war?

“Commendatore”, flüsterte der Stationsvorsteher, eine Hand auf die Brust gelegt, “hier weiß nur ich davon und der Telegraphist; auch in Rom und in Avezzano wissen es nur der Stationsvorsteher und der Telegraphist. Commendatore, es ist doch in unserem eigenen Interesse, im Interesse der Eisenbahnverwaltung, die Sache geheimzuhalten. Vertrauen Sie uns ruhig!”

Was konnte man schon anderes tun in einer so heiklen Situation? Und also erhielt der unschuldige Seminarist Feliciangiolo Scanalino den triumphalen Empfang der Stadt Valdana, auf seinem Leichenwagen, der aussah wie ein Berg von Blumen, gezogen von acht Pferden. Er erhielt den Kranz des Königs, er erhielt die Leichenrede des Bürgermeisters, und er erhielt die Begleitung einer ganzen Volksmenge bis zum Friedhof.

Unterdessen reiste der Abgeordnete Costanzo Ramberti von Avezzano in dem schmucklosen, staubigen Waggon mit der Aufschrift Pferde: 8, Menschen: 40 ohne eine einzige Blume, ohne ein einziges Bändchen: ein armer, fortgeschickter Körper, vom Weg abgekommen und gestrandet, so weit weg von seinem Bestimmungsort.

Mitten in der Nacht kam er im Bahnhof Valdana an. Nur der Bürgermeister und vier vertrauenswürdige Totengräber erwarteten ihn am Bahnhof und mucksmäuschenstill, mit den leisen Schritten von Gaunern, die ein Schmuggelgut vor den Augen der Zöllner verbergen wollen, schleppten sie ihn auf und ab über holprige Feldwege, von denen ein Laternchen immer nur kleine Stücke notdürftig aus dem Dunkel riß, zum Friedhof und gruben ihn ein; dann seufzten sie tief und erleichtert auf.

© Michael Rössner.

In Italiano – L’illustre estinto (1909)
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