Schubkarrenfahren – 1917

In Italiano – La carriola (1917)

Audiolesung – Schubkarrenfahren Stimme von Giuseppe Tizza

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Schubkarrenfahren
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Erstveröffentlichung 1917 in dem Novellenband E domani, lunedì (“Und morgen ist Montag”); keine wesentlichen Varianten.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Schubkarrenfahren

Wenn ich jemanden bei mir habe, sehe ich sie nie an; aber ich spüre, daß sie mich ansieht, sie sieht mich an, sieht mich an, ohne mich auch nur einen Augenblick mit ihren Augen loszulassen.

Unter vier Augen möchte ich ihr zu verstehen geben, daß es nichts zu bedeuten hat; daß sie ganz ruhig sein soll; daß ich mir mit anderen diese kurze Handlung nicht erlauben könnte, die für sie keine Bedeutung hat und für mich alles ist. Ich vollziehe sie jeden Tag, wenn ein günstiger Augen­blick da ist, unter strengster Geheimhaltung, mit erschreckender Freude, denn ich koste darin zitternd die Lust eines göttlichen, bewußten Irrsinns, der mich für einen Augenblick befreit und für alles entschädigt.

Ich mußte sicher sein (und sicher meinte ich nur bei ihr sein zu können) daß diese Handlung nicht entdeckt werden konnte. Denn wenn sie einmal entdeckt würde, wäre der Schaden unermeßlich, und nicht nur für mich. Ich wäre erledigt. Wahrscheinlich würden sie mich packen, fesseln und entsetzt in ein Irrenhaus schleppen.

Der Schrecken, der alle ergriffe, wenn meine Handlung entdeckt würde, den lese ich nun hier in den Augen meines Opfers.

Mir sind das Leben, die Ehre, die Freiheit, die Besitztümer unzähliger Menschen anvertraut, die mich von morgens bis abends belagern, damit ich für sie tätig werde, ihnen rate, ihnen beistehe. Und noch viele andere, allerhöchste Pflichten lasten auf mir, im öffentlichen wie im privaten Bereich: ich habe eine Frau und Kinder, die oft zu schwach sind, sich so zu verhalten, wie sie es tun sollten, und die deshalb ständig durch meine strenge Autorität im Zaum gehalten werden müssen, durch das beständige Beispiel meines unbeugsamen und tadellosen Gehorsams gegenüber allen meinen Verpflichtungen, von denen eine ernster ist als die andere, als Ehemann, als Vater, als Bürger, als Professor der Rechtswissenschaften, als Anwalt. Wehe also, wenn mein Geheimnis entdeckt würde!

Mein Opfer kann nicht sprechen, das ist wahr. Und dennoch fühle ich mich seit einigen Tagen nicht mehr sicher. Ich bin nervös und unruhig. Denn wenn sie schon nicht sprechen kann, so sieht sie mich doch an, sieht mich mit so seltsamen Augen an, und in diesen Augen steht der Schreck so deutlich zu lesen, daß ich fürchte, jemand könnte das von einem Augenblick zum anderen bemerken und sich bemüßigt fühlen, den Grund dieses Schrecks herauszufinden.

Ich wäre, ich wiederhole es, erledigt. Die wahre Bedeutung der Handlung, die ich ausführe, kann nur von den ganz wenigen eingeschätzt und beurteilt werden, denen sich das Leben plötzlich offenbart hat, so wie das bei mir geschehen ist.

Es auszusprechen und verständlich zu machen, ist nicht einfach. Ich will es versuchen.

Vor ungefähr vierzehn Tagen fuhr ich von Perugia, wo ich beruflich zu tun gehabt hatte, wieder nach Hause.

Eine meiner schwierigsten Pflichten besteht darin, die Müdigkeit, die mich erdrückt, nicht zu bemerken, das enorme Gewicht all der Verpflichtungen, die ich mir selbst und die mir die anderen aufgeladen haben, und nicht im geringsten dem Bedürfnis nach ein wenig Zerstreuung nachzugeben, das mein erschöpfter Geist von Zeit zu Zeit verspürt. Die einzige Zerstreuung, die ich mir erlauben kann, ist die: wenn mich die Müdigkeit bei einer lästigen Aufgabe, der ich mich schon lange Zeit gewidmet habe, allzu sehr quält, dann kann ich mich einer neuen zuwenden.

Ich hatte deshalb in meiner ledernen Aktentasche einige neue Akten in den Zug mitgenommen, um sie zu studieren. Als ich beim Lesen auf ein erstes Problem gestoßen war, hatte ich die Augen vom Papier gehoben und sie auf das Fenster des Waggons gerichtet. Ich blickte hinaus, aber ich sah nichts, weil ich wegen dieses Problems ganz in Gedanken verloren war.

Nun, also eigentlich kann ich nicht sagen, daß ich nichts sah. Die Augen sahen; sie sahen und genossen vielleicht ganz für sich die Anmut und die sanften Linien der umbrischen Landschaft. Aber ich schenkte sicherlich dem, was die Augen sahen, keine Aufmerksamkeit.

Nur begann in mir auch die Aufmerksamkeit, die ich diesem mich beschäftigenden Problem schenkte, nachzulassen, ohne daß mir deswegen das Schauspiel der Landschaft, die mir doch so rein, leicht, erquickend vor den Augen dahinzog, deutlicher bewußt geworden wäre.

Ich dachte nicht an das, was ich sah, und dachte überhaupt an nichts mehr; für eine Zeitspanne, deren Länge ich nicht angeben könnte, verharrte ich so in einer Art seltsamer, vager Abwesenheit, die doch sehr klar und angenehm war. Geradezu luftig leicht. Mein Geist war den Sinnen beinahe entflohen, in eine unendliche Ferne, wo er mit einem Glücksgefühl, das nicht das seine schien, wer weiß wie schwache Bilder des Treibens eines anderen Lebens wahrnahm, das nicht das seine war, aber doch seines hätte sein können, nicht hier, nicht jetzt, wohl aber dort, in dieser unendlichen Ferne; eines weit zurückliegenden Lebens, das viel­leicht das seine gewesen war, er wußte nicht wie noch wann; das die ununterscheidbare Erinnerung atmete, nicht von Taten, nicht von Ansichten, sondern beinahe von Wünschen, die schon vergangen waren, ehe sie noch entstehen konnten; mit einer bangen, eitlen und doch harten Qual des Nicht-Seins, derselben, die vielleicht die Blumen fühlen, die nicht aufzublühen vermocht haben; mit einem Wort, das Treiben eines Lebens, das zu leben war, dort, weit, sehr weit weg, von wo aus es Zeichen gab mit Klopfen und Lichtblitzen. Und es war nicht geboren worden; aber in ihm hätte sich der Geist, ja, dann schon, oh ja, ganz und gar wiedergefunden, auch zum Leiden wiedergefunden, nicht nur zum Genuß des Glücks, auch zum Ertragen von Leiden, die wirklich seine Leiden waren.

Nach und nach fielen mir die Augen zu, ohne daß ich es bemerkte, und vielleicht verfolgte ich im Schlaf weiter dieses Leben, das nicht geboren worden war. Ich sage vielleicht, denn als ich erwachte, mit schmerzenden Gliedern und einem bitteren Geschmack im ausgedörrten Mund, schon kurz vor der Ankunft, da fand ich meine Seele auf einmal ganz und gar verändert, voll eines entsetzlichen Überdrusses gegenüber dem Leben, in einer düsteren, bleiernen Bestürzung, in der der Anblick der allergewohntesten Dinge mir plötzlich völlig sinnentleert, wohl aber für meine Augen mit einer grausamen, unerträglichen Schwere behaftet erschien.

In dieser Stimmung verließ ich am Zielbahnhof den Zug, bestieg mein am Ausgang wartendes Automobil und machte mich auf den Weg nach Hause.

Gut, also es geschah im Stiegenhaus, auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnungstür.

 

Plötzlich sah ich vor dieser dunklen, bronzefarbenen Tür mit dem ovalen Messingschild, auf dem mein Name eingraviert ist, eingeleitet von meinen Titeln und gefolgt von meinen wissenschaftlichen und beruflichen Attributen, plötz­lich sah ich da wie von außen mich selbst und mein Leben, aber nicht, um mich wiederzuerkennen und um dieses Leben als das meine zu erkennen.

In erschreckender Weise überkam mich vielmehr auf einmal die Gewißheit, daß dieser Mensch, der da vor dieser Tür stand, mit der ledernen Aktentasche unter dem Arm, daß dieser Mensch, der in diesem Hause wohnte, nicht ich war, niemals ich gewesen war. Plötzlich erkannte ich, daß ich immer wie von diesem Hause, von dem Leben dieses Menschen abwesend gewesen war, und nicht nur von diesem, sondern tatsächlich und eigentlich von jedem Leben. Ich hatte nie gelebt; ich war nie wirklich im Leben gewesen; in einem Leben, meine ich, daß ich als das meine, als das von mir gewollte hätte empfinden und anerkennen können. Auch mein eigener Körper, meine Gestalt, wie sie mir nun unversehens erschien, mit diesen Kleidern, dieser Aufmachung, erschien mir als etwas Fremdes: als ob sie mir jemand anderer aufgedrängt und zusammengestellt hätte, diese Gestalt, um mich in einem Leben auftreten zu lassen, das nicht das meine war, um mich in diesem Leben, aus dem ich immer abwesend gewesen war, Akte der Präsenz setzen zu lassen, in denen, wie mein Geist nun auf einmal bemerkte, ich mich nie befunden hatte, nie, nie! Wer hatte ihn so gemacht, den Menschen, der mich verkörperte? Wer hatte ihn so gewollt? Wer kleidete ihn so, wer zog ihm diese Schuhe an? Wer ließ ihn sich so bewegen und so sprechen? Wer hatte ihm diese ganzen Verpflichtungen auferlegt, von denen eine belastender und ärgerlicher war als die andere? Commen­datore, Professor, Rechtsanwalt, der Mann, den alle suchten, den alle respektierten und bewunderten, von dem alle Taten, Ratschläge, Beistand wollten, um den alle stritten, ohne ihm je einen Augenblick Ruhe, einen Augenblick zum Atemholen zu gönnen – das war ich? Ich? Wirklich ich? Ja, wie denn das? Was gingen denn mich die ganzen lästigen Aufgaben an, in die dieser Mann von morgens bis abends verstrickt war; was der ganze Respekt, die ganze Achtung, die er genoß, Commendatore, Professor, Rechtsanwalt, und was der Reichtum und die Ehren, die ihm durch die eifrige und gewissenhafte Erfüllung all dieser Verpflichtungen, durch die Ausübung seines Berufes zugewachsen waren?

Und dort, hinter dieser Tür, die auf dem ovalen Messingschild meinen Namen trug, waren eine Frau und vier Kinder, die jeden Tag mit demselben Widerwillen, der auch der meine war, den ich aber in ihnen nicht dulden konnte, diesen unerträglichen Menschen vor sich sahen, der ich sein mußte, und in dem ich nun einen mir Fremden, einen Feind erkannte. Meine Frau? Meine Kinder? Aber wenn ich doch nie ich gewesen war in Wirklichkeit, wenn doch in Wirklichkeit (und ich fühlte es mit erschreckender Sicherheit) dieser unerträgliche Mensch, der da vor der Türe stand, gar nicht ich war; wessen Frau war dann diese Frau, wessen Kinder waren dann diese vier Kinder? Meine waren sie sicher nicht! Sie gehörten diesem Mann, diesem Mann, den mein Geist in diesem Augenblick, hätte er einen Körper besessen, seinen wahren Körper, seine wahre Gestalt, mit Fußtritten davongejagt oder aber gepackt, zerrissen, zerstört hätte, mit all diesen lästigen Aufgaben, mit all diesen Pflichten und Ehren und dem Respekt und dem Reichtum, und auch mit der Frau, ja, vielleicht auch die Frau…

Aber die Kinder?

Ich griff mir an die Schläfen und drückte fest zu.

Nein. Ich empfand sie nicht als die meinen. Aber über ein seltsames, qualvolles, banges Gefühl von ihnen, wie sie außerhalb meiner selbst waren, wie ich sie jeden Tag vor mir sah, wie sie mich brauchten, meine Betreuung, meinen Rat, meine Arbeit; über dieses Gefühl und mit der Empfindung des entsetzlichen Überdrusses, mit der ich im Zug aufgewacht war, fühlte ich, wie ich wieder in diesen unerträglichen Menschen hineinschlüpfte, der vor der Tür stand.

Ich holte den Schlüssel aus der Tasche; ich öffnete diese Tür und trat wieder in dieses Haus und in das Leben von zuvor ein.

Nun ist das meine Tragödie. Ich sage die meine, aber wer weiß, für wie viele Leute es ihre Tragödie ist.

Wer lebt, sieht sich nicht, wenn er lebt; er lebt einfach… Wenn jemand das eigene Leben sehen kann, ist das ein Zeichen, daß er es nicht mehr lebt: es widerfährt ihm, er schleppt es mit. Wie ein totes Ding schleppt er es mit. Denn jede Form ist ein Tod.

Ganz wenige wissen das; die meisten, beinahe alle, kämpfen, bemühen sich, wie sie sagen, sich eine Position zu schaffen, eine Form zu erreichen; haben sie die erreicht, glauben sie, ihr Leben erkämpft zu haben, und stattdessen beginnen sie zu sterben. Sie wissen es nicht, weil sie sich nicht sehen; weil sie es nicht vermögen, sich von dieser sterbenden Form zu lösen, die sie erreicht haben; sie erkennen sich nicht als Tote und glauben zu leben. Nur der erkennt sich, dem es gelingt, die Form zu sehen, die er selbst oder andere, das Schicksal, der Zufall, die Bedingungen, unter denen jeder auf die Welt kommt, ihm gegeben haben. Aber wenn wir sie einmal sehen können, diese Form, dann ist das ein Zeichen, daß unser Leben nicht mehr in ihr ist; denn wenn es noch darin wäre, würden wir sie nicht sehen: wir würden sie leben, diese Form, ohne sie zu sehen, und wir würden jeden Tag mehr in ihr sterben, die schon an und für sich ein Tod ist, ohne sie dabei kennenzulernen. Wir können daher nur das an uns sehen und kennen­lernen, was von uns gestorben ist. Sich erkennen heißt sterben.

Mein Fall liegt freilich noch schlimmer. Ich sehe nicht das, was an mir gestorben ist; ich sehe, daß ich nie gelebt habe, ich sehe die Form, die die anderen, nicht ich, mir gegeben haben, und ich fühle, daß mein Leben, ein Leben, das wahrhaft mein gewesen wäre, nie in dieser Form gewesen ist. Sie haben mich genommen wie irgendeinen Werkstoff, sie haben ein Gehirn genommen, eine Seele, ein paar Muskeln, Nerven, Fleisch, sie haben aus dem Ganzen einen Teig gemacht und ihn geformt, wie es ihnen paßte, damit er eine Arbeit verrichtet, Handlungen setzt, Verpflichtungen nachkommt, in denen ich mich suche und nicht finde. Und ich schreie, meine Seele schreit in dieser toten Form, die nie die meine war: “Ja, wieso denn? Ich soll das sein? So soll ich sein? Ja, wann wäre ich denn je so?” Und ich empfinde Ekel, Abscheu, Haß vor dem, der ich nicht bin, der ich nie gewesen bin; vor dieser toten Form, in der ich gefangen bin, und von der ich mich nicht befreien kann. Eine Form, die noch von Pflichten beschwert wird, die ich nicht als meine empfinde, von lästigen Aufgaben bedrückt, die mir nichts bedeuten, geprägt von einer allgemeinen Achtung, mit der ich nichts anzufangen weiß; eine Form, die in diesen Pflichten, diesen Aufgaben, dieser Achtung besteht, die sich doch außerhalb meiner selbst, oberhalb von mir befinden; leere Dinge, tote Dinge, die schwer an mir hängen, mich ersticken, mich erdrücken und mich nicht mehr atmen lassen.

Mich befreien? Aber niemand kann eine Tatsache un­geschehen machen, niemand kann machen, daß der Tod nicht mehr da sei, wenn er uns einmal ergriffen hat und festhält.

Da sind die Tatsachen. Wenn du einmal, wie auch immer, gehandelt hast, auch ohne daß du dich selbst danach in deinen Handlungen gefühlt oder wiedergefunden hast, dann bleibt doch das zurück, was du getan hast, wie ein Gefängnis für dich. Und wie Fangarme und Windungen um­fassen dich die Folgen deiner Handlungen. Und um dich herum lastet wie eine dichte, schwere, den Atem benehmende Atmosphäre die Verantwortung, die dir durch diese ungewollten oder unvorhergesehenen Handlungen und ihre Folgen zugewachsen ist. Wie könnte ich in dem Gefängnis dieser Form, die nicht die meine ist, aber mich darstellt, so wie ich für alle bin, wie alle mich kennen und wollen und respektieren, wie könnte ich darin ein anderes, mein wahres Leben annehmen und führen? Ein Leben in einer Form, die ich als tot empfinde, die aber für die anderen weiter­bestehen muß, für alle die, die sie aufgebaut haben und sie so und nicht anders haben wollen? Sie muß so sein, ganz zwangsläufig. So braucht sie meine Frau, so brauchen sie meine Kinder, die Gesellschaft, das heißt die Herren Studenten der juristischen Fakultät, die Herren Klienten, die ihr Leben, ihre Ehre, ihre Freiheit, ihr Vermögen in meine Hände legen. So wird sie gebraucht, und ich kann sie nicht verändern, ich kann sie nicht mit Fußtritten traktieren und sie mir vom Halse schaffen; ich kann mich nicht gegen sie auflehnen, nicht an ihr rächen, es sei denn für einen einzigen Augenblick jeden Tag, mit einer Handlung, die ich unter strengster Geheimhaltung vollführe, indem ich mit Bangen und unendlicher Umsicht den geeigneten Moment auswähle, in dem mich keiner sehen kann.

Das ist’s: Ich habe eine alte Schäferhündin, die seit elf Jahren im Haus ist, schwarz-weiß gefleckt, dick, kurzbeinig und mit langem Fell, die Augen schon ein wenig vom Alter verschleiert.

Zwischen ihr und mir bestand nie ein gutes Verhältnis. Vielleicht hat sie zu Beginn meinen Beruf nicht sehr geschätzt, da dieser ihr verbot, Lärm im Haus zu machen; nach und nach hat sie jedoch im Alter begonnen, ihn sehr wohl zu schätzen, so sehr, daß sie, um der kapriziösen Tyrannei der Kinder zu entkommen, die noch immer mit ihr unten im Garten herumtollen möchten, seit geraumer Zeit die Gewohnheit angenommen hat, sich von morgens bis abends in mein Arbeitszimmer zu flüchten, wo sie auf dem Teppich schläft, die spitze Schnauze zwischen die Pfoten gesteckt. Zwischen so vielen Papieren und so vielen Büchern fühlte sie sich geborgen und sicher. Von Zeit zu Zeit pflegte sie ein Auge aufzuschlagen, um mich anzusehen, als wollte sie sagen:

“Bravo, ja, mein Lieber! Arbeite nur, rühre dich nur nicht fort von hier, denn solange du da arbeitest, wird niemand hereinkommen, um meinen Schlaf zu stören.”

So dachte das arme Tier mit Sicherheit. Die Versuchung, an ihr meine Rache zu vollziehen, überkam mich vor etwa vierzehn Tagen ganz plötzlich, als ich merkte, wie sie mich so ansah.

Ich tue ihr nicht weh; ich tue ihr gar nichts. Kaum, daß es mir möglich ist, kaum, daß mir igendein Klient einen freien Augenblick läßt, erhebe ich mich vorsichtig und lang­sam aus meinem Lehnstuhl, damit niemand bemerkt, daß mein gefürchtetes und beneidetes Wissen, mein beeindruckendes Wissen als Anwalt und Professor der Rechtswissen­schaften, meine strenge Würde als Ehemann und Vater sich für einen Augenblick von dem Thron dieses Lehnstuhls gelöst haben. Auf Zehenspitzen laufe ich zur Tür, um in den Gang hinauszu­spähen, ob dort niemand zu sehen ist. Dann versperre ich die Tür, nur für einen Augenblick; meine Augen leuchten vor Freude, meine Hände tanzen in dem Vorgefühl der Lust, die ich mir nun verschaffen werde, der Lust, verrückt zu sein, für einen einzigen Augenblick verrückt zu sein, für einen einzigen Augenblick dem Gefängnis dieser toten Form zu entfliehen, für einen einzigen Augenblick in schelmenhafter Weise dieses Wissen, diese Würde, die mich ersticken und erdrücken, zu zerstören, zu vernichten; ich laufe zu ihr hin, zu der Hündin, die auf dem Teppich schläft; langsam und mit Anmut ergreife ich ihre beiden Hinterpfoten und fahre mit ihr Schubkarren; ich lasse sie acht oder zehn Schritte, nicht mehr, auf den Vorderpfoten allein gehen, während ich sie an den Hinterpfoten halte.

Das ist alles. Nichts anderes tue ich. Ich laufe sofort zur Türe, um sie ganz vorsichtig ohne das leiseste Geräusch wieder aufzusperren, ich setze mich wieder auf den Thron, in meinen Lehnstuhl, bereit, einen neuen Klienten zu empfangen, mit der strengen Würde von zuvor, geladen wie eine Kanone mit all meinem beeindruckenden Wissen.

Aber da ist es, das Tier, seit vierzehn Tagen liegt die Hündin da wie betäubt und blickt mich an mit diesen verschleierten, vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Ich möchte ihr zu verstehen geben – ich sage es noch einmal – daß das alles nichts ist; daß sie ganz ruhig sein soll, daß sie mich nicht so ansehen soll.

Es versteht, dieses Tier, wie entsetzlich meine Handlung tatsächlich ist.

Es wäre nichts dabei, wenn ich dasselbe im Scherz mit einem meiner Kinder machen würde. Aber die Hündin weiß, daß ich nicht scherzen kann; es ist ihr nicht möglich, anzunehmen, daß ich auch nur für einen Augenblick scherzen könnte. Und so fährt sie fort mich entsetzt anzusehen, wie ein Fluch.

© Michael Rössner.

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