Auswirkungen eines unterbrochenen Traums – 1936

In Italiano – Effetti di un sogno interrotto (1936)

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Auswirkungen eines unterbrochenen Traums
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Auswirkungen eines unterbrochenen Traums

aus dem Italienischen von Michael Rössner

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Stimme von Giuseppe Tizza

Ich wohne in einem alten Haus, das den Eindruck eines Trödlerladens macht. In einem Haus, das seit wer weiß wie vielen Jahren Staub geschluckt hat.

Das ständige Halbdunkel, das dieses Haus bedrückt, hat etwas von der steifen Atmosphäre der Kirchen an sich; in ihm steht unbeweglich der muffige, alte und welke Geruch der zerfallenden Möbel in allen Formen, mit denen es vollgestopft, und der vielen Stoffe, mit denen es geschmückt ist, teure, zerrissene und ausgebleichte Stoffe, überall ausgebreitet und aufgehängt, in Form von Decken, Vorhängen oder Baldachinen. Ich trage meinen Teil bei zu diesem Gestank, indem ich den ganzen Tag meine alten, verkrusteten Pfeifen rauche und damit die Luft verpeste. Nur dann, wenn ich von draußen zurückkomme, fällt es mir überhaupt auf, daß man in meinem Haus gar keine Luft kriegt. Aber für einen, der ein Leben führt wie ich… Aber genug: lassen wir das.

Im Schlafzimmer befindet sich eine Art Alkoven auf einer Plattform, zu dem man über zwei Stufen hinaufsteigt. Oben ist die Zimmerdecke, der Stützbalken liegt in der Mitte auf zwei gedrungenen Säulen auf. Auch hier Baldachinvorhänge, die das Bett verbergen sollen, sie laufen auf Messingstangen hinter den Säulen. Die andere Hälfte des Zimmers dient als Arbeitsraum. Unter den Säulen steht ein Sofa: ehrlich gesagt ist es sehr bequem, mit jeder Menge darauf aufgetürmter Kissen, und davor ein massiver Tisch, der als Schreibtisch verwendet wird; zur Linken  ein großer Kamin, den ich nie anzünde; in der gegenüberliegenden Wand, zwischen zwei Fensterchen, ein altes Regal mit Bücherleichen, die in vergilbtes Pergament gebunden sind. Auf dem Kaminsims aus geschwärztem Marmor ist ein halb geräuchertes Bild aus dem siebzehnten Jahrhundert aufgehängt, eine Darstellung der Büßenden Magdalena, ich weiß nicht, ob es ein Original oder eine Kopie ist, aber selbst wenn es eine Kopie sein sollte, hat es einen gewissen Wert. Die lebensgroße Figur liegt auf dem Bauch ausgestreckt in einer Höhle; ein auf den Ellbogen gestützter Arm hält den Kopf; die gesenkten Augen bemühen sich, bei dem Licht einer neben einen Totenschädel auf den Boden gestellten Öllampe in einem Buch zu lesen. Sicherlich, das Gesicht, die prächtige Fülle der offenen rötlichen Haare, die eine Schulter und die Brust frei lassen, sind in dem Schein dieser Öllampe wunderschön.

Das Haus gehört mir und gehört mir auch wieder nicht. Es gehört mit dem gesamten Mobiliar einem Freund von mir, der es mir vor drei Jahren, als er nach Amerika aufbrach, als Garantie für einen größeren Geldbetrag überließ, den er mir noch schuldete. Dieser Freund hat sich natürlich nie wieder gemeldet, und trotz aller Nachfragen und Nachforschungen, die ich angestellt habe, ist es mir nicht gelungen, irgendeine Nachricht von ihm zu erhalten. Sicher ist nur, daß ich noch nicht über das Haus und seinen Inhalt verfügen kann, um mir das Meine zurückzuholen.

Nun, ein Antiquitätenhändler aus meinem Bekanntenkreis hat sich in diese Büßende Magdalena verliebt, und neulich erst führte er mir einen fremden Herrn ins Haus, um sie ihm zu zeigen.

Der Herr, um die vierzig, groß, mager, kahlköpfig, trug strengste Trauer, wie man es in der Provinz noch zu tun pflegt. Sogar das Hemd war ein Trauerhemd. Aber auch auf seinem eingefallenen Gesicht war noch das Unglück zu lesen, das ihn vor kurzem heimgesucht hatte. Als er das Bild sah, wechselte er die Farbe und schlug plötzlich die Hände vor die Augen, während der Antiquitätenhändler ihn mit seltsamer Befriedigung fragte: „Ist es nicht wahr? Ist es nicht wahr?“

Jener, das Gesicht immer noch hinter den Händen verborgen, nickte mehrmals bejahend. Es schien, als wollten ihm die angeschwollenen Adern in dem kahlen Schädel platzen. Aus der Tasche zog er ein schwarzgerändertes Taschentuch und führte es an die Augen, um die hervorbrechenden Tränen aufzuhalten. Ich sah, wie sein Zwerchfell lange stumm erbebte, während er gleichzeitig in einem fort schluchzend durch die Nase aufzog.

Alles ‑ auf süditalienische Weise ‑ sehr übertrieben.

Aber vielleicht auch ehrlich.

Der Antiquitätenhändler wollte mir erklären, daß er seit seiner Kindheit die Frau dieses Herrn kannte, die aus demselben Dorf stammte wie er selbst: „Ich kann Ihnen versichern, sie war das genaue Abbild dieser Magdalena. Ich habe mich gestern daran erinnert, als mein Freund mir die Nachricht brachte, daß sie gestorben war, so jung noch, kaum einen Monat ist es her. Sie wissen, daß ich erst vor kurzem da gewesen bin, um dieses Bild anzusehen.“

„Ja, das schon, aber ich…“

„Ja, Sie sagten damals, Sie könnten es nicht verkaufen.“

„Und jetzt ebenso wenig.“

Ich fühlte mich von diesem Herrn am Arm gepackt, er warf sich mir beinahe weinend an die Brust und beschwor mich, es ihm abzutreten, um welchen Preis auch immer: Es wäre sie, seine Frau, genau sie, sie so ‑ ganz und gar ‑ wie nur er allein, er als Ehemann, sie in der häuslichen Intimität gesehen haben könne (und als er das sagte, spielte er sichtlich auf die nackte Brust an), und er könne sie mir nun nicht mehr vor den Augen lassen, das müsse ich doch verstehen, nun, da ich das wisse.

Ich sah ihn an, verblüfft und konsterniert, als hätte ich einen Irren vor mir, denn es schien mir nicht möglich, daß er so etwas im Ernst sagte, das heißt, daß er im Ernst meinen könnte, daß das, was für mich nichts anderes war als ein Gemälde, an das ich nie irgend einen Gedanken verschwendet hatte, nun auch für mich das Porträt seiner Frau werden konnte, so mit der entblößten Brust, wie er sie allein in der häuslichen Intimität erblickt haben konnte, somit also in einem Zustand, in dem er sie nicht mehr von einem Fremden ansehen lassen durfte.

Das Seltsame einer solchen Forderung rief bei mir ein unwillkürliches Lachen hervor.

„Aber nein, sehen Sie doch, lieber Herr: Ich habe Ihre Frau ja nie gekannt; ich kann daher an dieses Bild gar nicht den Gedanken knüpfen, dessen Sie mich verdächtigen. Ich sehe da bloß ein Gemälde mit einem Bild, das… ja, das zeigt…“

Hätte ich das bloß nie gesagt! Er pflanzte sich vor mir auf, als wollte er mir an die Gurgel springen, und schrie:

„Ich verbiete Ihnen, sie jetzt anzusehen, so, in meiner Gegenwart!“

Zum Glück griff da der Antiquitätenhändler ein, der mich um Entschuldigung bat, um Mitleid mit diesem armen Mann, der förmlich von Sinnen war; er sei stets bis zum Wahnsinn eifersüchtig auf seine Frau gewesen, die er bis zum letzten Atemzug mit einer beinahe krankhaften Liebe geliebt habe. Dann wandte er sich an ihn und beschwor ihn, sich zu beruhigen; es wäre dumm, zu mir so zu reden, zu behaupten, es wäre meine Pflicht, aufgrund all dieser intimen Dinge ihm das Bild abzutreten. Er wage auch noch, mir das Betrachten des Bildes zu verbieten? Ja, sei er denn wirklich ganz und gar von Sinnen? Und damit schleppte er ihn fort, wobei er mich abermals um Entschuldigung für die Szene bat, er habe nicht geahnt, daß er mich so etwas werde erleben lassen.

Ich war so beeindruckt von dieser Geschichte, daß ich in der darauf folgenden Nacht davon träumte.

Um es genauer zu sagen, muß ich diesen Traum wohl in den ersten Morgenstunden geträumt haben, genau in dem Augenblick, in dem ein plötzlicher Lärm vor der Türe des Zimmers mich weckte, ein Streit zwischen Katzen, die durch weiß Gott welche Schlupflöcher ständig in mein Haus kommen, wahrscheinlich angezogen von den vielen Mäusen, die hier Quartier aufgeschlagen haben.

Auswirkung des dergestalt plötzlich unterbrochenen Traums war es, daß die Trugbilder desselben, ich meine der Herr in Trauer und das Bild der Magdalena, die seine Frau geworden war, vielleicht nicht mehr die Zeit hatten, in mich zurückzukehren, und draußen blieben, in dem anderen Teil des Zimmers jenseits der Säulen, in dem ich sie im Traum gesehen hatte; so daß ich, als ich bei dem Lärm aus dem Bett aufschreckte und den Vorhang mit einem raschen Zug beiseiteschob, vage ein Wirrwarr aus nacktem Fleisch und roten und türkisfarbenen Stoffen auf den Kaminsims huschen und blitzartig wieder die Position im Bild einnehmen sah; und auf dem Sofa, unter all den durcheinandergeworfenen Kissen, da war er, dieser Herr, der sich eben aus der liegenden Haltung in die sitzende aufrichtete, nicht mehr schwarz gekleidet, sondern in einem Pyjama aus himmelblauer Seide mit weißen und dunkelblauen Streifen, der sich in dem allmählich stärker werdenden Licht, das durch die beiden Fensterchen drang, allmählich in der Form und in den Farben dieser Kissen auflöste und endlich verschwand.

Ich will nicht versuchen zu erklären, wofür es keine Erklärung gibt. Niemand hat je das Geheimnis der Träume ergründet. Tatsache ist: Als ich, aufs höchste verwirrt, die Augen hob, um das Bild auf dem Kaminsims zu betrachten, da sah ich mit aller Deutlichkeit, wie die Augen der Magdalena für einen Augenblick lebendig wurden, die Lider von der Lektüre abhoben und mit einen Blick zuwarfen, einen lebendigen, in zarter, diabolischer Schelmenhaftigkeit lachenden Blick. Vielleicht waren es die geträumten Augen der verstorbenen Gattin dieses Herrn, die sich für einen Augenblick in den gemalten Augen des Bildes belebten.

Ich konnte keinen Augenblick länger in dem Haus bleiben. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe mich anzuziehen. Von Zeit zu Zeit habe ich mich mit einem Gefühl des Horrors, das Sie sich gut ausmalen können, umgewandt, um verstohlen diese Augen zu betrachten. Ich fand sie stets gesenkt und in die Lektüre versunken vor, wie sie in dem Gemälde tatsächlich sind; aber nun war ich mir schon nicht mehr sicher, ob sie nicht, wenn ich nicht mehr hinsah, hinter meinem Rücken wieder lebendig wurden, um mich immer noch mit diesem Schimmer von zarter, diabolischer Schelmenhaftigkeit anzublicken.

Ich stürzte in das Geschäft des Antiquitätenhändlers, das ganz nahe bei meinem Hause liegt. Ich sagte ihm, wenn ich das Bild auch seinem Freund nicht verkaufen könne, könne ich diesem doch das Haus mit dem gesamten Mobiliar, das Bild eingeschlossen, versteht sich, zu einem sehr günstigen Preis vermieten.

„Schon ab dem heutigen Tag, wenn Ihr Freund das so will.“

In meinem überfallsartigen Angebot lag so viel Bangigkeit und Beklemmung, daß der Antiquitätenhändler den Grund dafür erfahren wollte. Den Grund, den schämte ich mich freilich ihm zu enthüllen. Stattdessen bat ich ihn, mich auf der Stelle zu dem Hotel zu begleiten, in dem sein Freund abgestiegen war.

Sie können sich meinen Zustand vorstellen, als ich diesen in seinem Hotelzimmer mir entgegenkommen sehe, bekleidet mit demselben Pyjama aus himmelblauer Seide mit weißen und dunkelblauen Streifen, in dem ich ihn im Traum gesehen und in meinem Zimmer beim Aufsetzen auf dem Sofa zwischen den durcheinandergeworfenen Kissen ertappt hatte.

„Sie kommen eben aus meinem Haus“, schrie ich ihn kreidebleich an. „Sie waren heute nacht in meinem Haus!“

Ich sah, wie er auf einem Sessel zusammenbrach, entsetzt, vor sich hinstammelnd: o Gott, ja, in meinem Haus, im Traum, da wäre er tatsächlich gewesen, und seine Frau…

„Eben, eben, Ihre Frau ist aus dem Bild herausgestiegen. Ich habe sie dabei ertappt, wie sie wieder zurückging. Und Sie selbst haben sich mir im Licht auf dem Sofa in Nichts aufgelöst. Aber Sie werden zugeben, als ich Sie auf dem Sofa erwischte, konnte ich nicht wissen, daß Sie einen Pyjama besitzen wie den, den sie anhaben. Dann waren es also tatsächlich Sie, der im Traum bei mir zu Hause gewesen ist; Ihre Frau ist tatsächlich aus dem Bild herausgestiegen, wie Sie es geträumt haben. Erklären Sie sich dieses Faktum, wie Sie wollen. Möglicherweise ist es einfach die Begegnung meines Traums mit dem Ihren. Ich weiß das nicht. Aber in meinem Haus kann ich nicht mehr bleiben, mit Ihnen, die Sie da im Traum zu Besuch kommen, und Ihrer Frau, die mich ansieht und dabei die Augen vom Bild aus öffnet und schließt. Den Grund, sich davor zu fürchten, der für mich gilt, den können Sie nicht haben, denn es handelt sich ja um Sie selbst und Ihre Frau; gehen Sie also und holen Sie sich das in meinem Haus zurückgebliebenes Bild Ihrer selbst ab! Was tun Sie jetzt? Sie wollen nicht mehr? Sie fallen in Ohnmacht?

„Ach, Halluzinationen, meine Herren nichts als Halluzinationen!“, wurde unterdessen der Apotheker nicht müde auszurufen.

Ach, wie reizend sind doch diese wohlgefestigten Menschen, die angesichts eines Faktums, für das es keine Erklärung gibt, sofort ein Wort finden, das nichts aussagt, und mit dem sie sich so wundersam einfach beruhigen:

„Halluzinationen“.

© Michael Rössner.

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